Erzähl mir eine Geschichte!

Das Kind war etwa zwei Jahre alt. Wo andere Kinder ein Stofftier haben, schleppte dieses wechselnde Bücher mit sich herum. Wann immer es brenzlig wurde – müde, Streß, blöder Tag –, da jammerte es: Mein Buch, mein Buch! Nur eine Geschichte aus dem Buch machte alles wieder gut.

Einmal waren wir auf dem Spielplatz, da trat das Unglück ein: das Kind war hingefallen, die Mutter hatte es abgestaubt, auf eine Bank gesetzt und wollte nun das Buch aus der Tasche ziehen, da war es nicht da. Vergessen. Kein Buch. Die Tränen begannen zu fließen, der Jammer türmte sich. Ich laufe, sagte die Mutter, schnell eins kaufen, paßt du solange auf?, und schon stürzte sie davon.

Ich setzte mich neben das haltlos weinende Kind auf die Bank und begann, in meinem Rucksack zu kramen. Ah, da ist es ja. Als ich mit großer Sorgfalt und beiden Händen – nichts hervorholte, wurde das Schluchzen leiser. Hier ist mein unsichtbares Buch. Komm, ich lese dir eine Geschichte vor.

Ich blätterte, guckte ins Inhaltsverzeichnis und entschied mich für eine Geschichte. Das Kind folgte fasziniert meinem Finger, hörte sich die Geschichte an, betrachtete die Illustrationen, und als ich das Buch zuklappte und wieder im Rucksack verstaute, waren die Tränen vergessen. Oder, fragte ich, soll ich es dir schenken?

Da grinste das Kind ein kleines bißchen: Brauchst du nicht. Ich habe zuhause ganz genau so eins.

(Die Mutter kam kurz darauf wieder mit einem Notkauf. Stellte sich heraus, auch dieses Buch hatte das Kind schon im Regal stehen.)

 

Ob die Tage uns herumscheuchen oder langweilen, ob sie voller Furcht und Ungewißheit sind oder einfach nur öde – es geht nichts über eine gute Geschichte. Sei es eine vertraute, die wie eine Decke wärmt, oder eine unerhörte, eine Reise ins Ganzwoanders. Grundlegend ändern kann sie ja meist nichts, aber sie kann uns ein paar Minuten oder auch Stunden davontragen.

Sollten wir uns nicht Geschichten erzählen?

Logo erzähl mir eine Geschichte
Falls mir wer eine Geschichte erzählen mag: hier ist ein Bildchen zum Dranhängen.

 

(II) Museumsgeschichtchen

2014 im Bonner Landesmuseum ging es um römische Monumentalbronzen am Limes. Hier, am äußersten Rand des Imperiums, verkörperten Kaiserstatuen überlebensgroß die römische Macht. Sie alle wurden gestürzt, zerstückelt, eingeschmolzen. Es gibt sie nicht mehr. Diese Ausstellung wollte ich sehen.

In gläsernen Vitrinen aufgeschichtet und strahlend beleuchtet lagen Trümmerhaufen. Bronzebruchstückchen, manchmal vielleicht ein Finger oder ein Stück Gewand erkennbar; beschriftet nicht nur mit Fundort und Herstellungszeit, sondern mit dem Namen des Dargestellten und dem wahrscheinlichen Schicksal der Statue … Woher, verflixt, wissen die das? Und damit war ich für die nächsten Stunden verloren. Den Ausstellungsmachern voll auf den Leim gegangen. Es war großartig; ich würde es jederzeit wieder tun.

* * *

Gegen schlechte Laune hilft mir nichts so zuverlässig wie ein naturhistorisches Museum. Ich erinnere mich an einen finsteren Liebeskummer in einer französischen Kleinstadt, der mich in das dortige Musée d’Histoire Naturelle et d’Ethnographie trieb. Ich war da recht allein, und nachdem mich die Museumswärter als harmlos eingestuft hatten, konnte ich unbehelligt umherstreifen. Ich hätte, was da ausgestellt war, ohnehin nicht geschenkt haben wollen. Ausgestopfte Kleinsäuger schauten mich mit verrutschten Glasaugen an; einem fleddrigen Tukan hätte ich gern die Staubflocken vom Schnabel gepustet. Südseemuscheln, Knochenschalen, zerfranste Prachtschmetterlinge und Ansichtskarten aus den Kolonien gab es da; ein Sammelsurium aus zweifelhafter Taxidermie und dem Bodensatz von Matrosenkoffern … und mit jeder weiteren Schrecklichkeit wich die Verzweiflung, mit jedem schielenden Untier stieg meine Stimmung, und am Ende fühlte ich mich ganz genesen: schlimmer geht immer, nach fest kommt ab, und was ist schon ein bißchen persönlicher Kummer gegen die absurden Wunder der Welt?

Der Vollständigkeit halber: Ich habe ein Herz für vernachlässigte Museen und würde gern diese selbst in Museen ausstellen, denn auch in ihnen stecken Sorgfalt und Fachkunde und Leidenschaft. Nur daß wir heute, nun ja, drüber weg sind.

* * *

Bei der Nacht der Museen im Landesmuseum Mainz geriet ich in eine Gruppe Jugendlicher, die im Raum mit den steinzeitlichen Ritzzeichnungen über einem Frauenbild rätselte. Achsooo, von der Seite! Keine Arme, Beine, kein Kopf, hier Brust, da Hintern … Und darauf, staunte einer, haben die sich damals in ihren Höhlen einen runtergeholt?

So sehr ich lachen mußte — der Junge stellt die richtigen Fragen.

 

Zur Blogparade des archäologischen Museums Hamburg.

 

 

Unter Tieren

In unseren Regionen sieht man wilde Tiere meist auf der Flucht: hakenschlagende Hasen, Elstern im Wellenflug, Eichhörnchen, stets auf der anderen Seite des Baumstamms. Manchmal möchte ich ihnen sagen, daß sie von mir nichts zu befürchten haben; aber sie haben ja recht, wenn sie Menschen mißtrauen und mit mir keine Ausnahme machen.
Mein Wanderweg durch den Forst gabelt sich in einer Senke, rechts des Bachlaufs geht es weiter, und während ich nach der Wegmarke ausschaue, prasselt es im Gebüsch. Ein Rehbock bricht vor mir aus seiner grünen Deckung, springt über Weg und Bach und auf der anderen Seite den Hang hoch, das weiße Hinterteil gut sichtbar wippend.
Ein paar Momente nehmen wir die gleiche Richtung, ich rechts, der Rehbock links des Bachs, ich unten auf dem Weg, er den Hang hinauf. Aber statt über den Rand der Senke zu entkommen, bleibt er auf einmal stehen, steht da zwischen Farn und Gestrüpp, ein graubraunes Tier, und schaut mich an. Fünfzehn, zwanzig Meter entfernt. Ich gehe weiter, die dunklen Augen folgen mir. Jedes Mal, wenn ich hinüberschaue, schaut der Rehbock zurück. Ich spüre seinen Blick im Nacken.
Nun ja, ein Reh. Fluchttiere, Pflanzenfresser. Zart und saftig. Vielleicht ist es neugierig. Weiß wohl, daß ich ihm nicht folgen kann. Aber woher weiß es, daß ich nicht schieße? (Können Rehe Tollwut haben?) Immerhin steht es ein paar Meter höher als ich; und der Bach dazwischen. Hätte es ein Gewehr und einen gegengreifenden Daumen, wäre es ein Mensch, der mir ans Leder wollte … Mir sträuben sich leicht die Nackenhaare. Ich wäre in jeder Hinsicht im Nachteil.
Wenig später ist das Tier verschwunden.
***
Als Kind hatte ich einen himmelhohen Kirschbaum. In einer Astgabel, die nur ich erreichen konnte, verbrachte ich lange Sommerstunden unter dem Geflirr des Blätterdachs. Die Vögel, die anfangs geflüchtet waren, wenn ich kam, störten sich bald nicht mehr an mir und gingen, außer meiner Reichweite zwar, aber sonst unbeeindruckt ihren Vogelgeschäften nach in höflicher Nachbarschaft.
 
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Man weiß es nicht

Ist es Dorf, ist es Stadt? Das kommt drauf an. Wer hier bleibt, sagt: Stadt.
 
Der letzte Lebensmittelladen im Ort hat aufgegeben, als im Gewerbegebiet der Discounter kam. Kurz danach der Metzger; der nächste wird der Bäcker sein. Was die alten Leute machen? Die Nachbarn kaufen ein; man kennt sich schließlich.
 
Ständig die freundlichen Fragen, wann er den Sichtbeton von seinem Anbau denn verputzen will. Der junge Architekt runzelt die Stirn. Alles Wohnspießer hier; reißen die jahrhundertealten Höfe ab und setzen sich Einfamilienhäuser hin, mit Doppelparkplatz zur Straße.
 
Ach, und das Fräulein, die Pfarrhaushälterin, ist jetzt auch tot. Wie der Pfarrer gestorben war damals, hat sie ihn schön gemacht, die ganze katholische Gemeinde ist gekommen, und da lag er auf seiner Seite vom Doppelbett; alles voller Blumen. Bis zum Schluß hat sie dann noch allein im Pfarrhaus gewohnt, der neue Pfarrer war ja schon nicht mehr vor Ort; jetzt hat’s die Gemeinde verkauft.
 
Die Sowiesos? Ei, mit dene rede mir nit; wieso, müsse Se die Oma frage, die weiß des noch.
 
 

Aprilpromenade

Überm Tal spielen die Wolken Kriegen, dicke weiße Wale in den Tiefen der Luft, und schleifen ihre Schatten über die Ufer: Hügel wie schlafende Drachen, moosig bewaldet. In allem ein Hauch von Grün, überzuckert mit Knospen, und an der Promenade steht die Magnolie still in weißen Flammen.
Darunter brüllen sich zwei an, ein Mann und eine Dreijährige. Drohendes “Ich sag’s dir zum letzten Mal …” auf seiner, “Maaaaamaaaaa!”-Gekreisch auf ihrer Seite. “Du bist ein blöder Papa”, heult das Kind, und als er sich zum Gehen wendet: “Nicht, nicht alleine lassen!”
Wir Passanten und Flaneure schauen höchstens verstohlen auf die Szene. Soll man hier nicht –?, aber darf man sich einmischen? Laut genug sind sie ja; diese Hilflosigkeit des Mannes, die vielleicht gleich in Wut umschlagen wird, und das Kind so untröstlich … Doch was würde es helfen?
Während ich noch den Wolken nachstarre, trifft mich ein Tropfen, und noch einer, und ein Regenschauer, gemischt mit Hagel, geht über der Promenade nieder. Schirme sprießen. Das Geschrei hört auf.
Später, Vater und Tochter sind längst fort, ist der Himmel genau über mir geteilt, eine graue, eine strahlend sonnige Hälfte; hoch oben blitzt ein Flugzeug auf, ein winziger glühender Splitter im Blau. Gleich wird er in der Wolkenwand verlöschen.

Brückenzauber

Die zwei gehen Hand in Hand, er raucht unterm Kapuzenpulli, sie pustet die Haare aus dem Gesicht; ich höre sie lachen. Wie alt mögen sie sein? Alle paar Schritte halten sie und stecken die Köpfe zusammen, beugen sich nieder zum Gitter des Handlaufs, zu einem der unzähligen kalten Quader, die andere hier hoch überm Strom befestigt haben.
Hier; sie richtet den Finger auf eine Stelle. Hier hängen die Schlösser noch nicht in Trauben; man kann zwischen ihnen hindurch aufs Wasser sehen. Er löst sich von ihr, wirft die Kippe in den Fluß und nestelt in seiner Jackentasche. Entzücken klingt in ihrer Stimme, als er das Schloß in die Höhe hält, schrill protestiert sie, als er einen Fuß zwischen die Gitter zwängt und sich nach oben stemmt, sich nach einer Strebe über allen anderen streckt. Ich glaube zu hören, wie es stählern klickt. Die Brücke bebt leise, als er wieder auf zwei Füßen landet.
Sie umhalst ihn, und dann saugen sie sich lange aneinander fest. Schließlich hebt sie die Faust, schwingt sie mit einem Hüpfer nach vorn und oben; in der Sonne müßte das winzige Stück Metall, das im Bogen dem Wasser zustürzt, glitzern, aber der Himmel ist bedeckt. Stumm schluckt der Fluß das Schlüsselchen.
Oben, auf der Brücke, machen sich die beiden auf den Weg zurück, die Arme um einander geschlungen. Und während er sich eine Zigarette ansteckt, während ich ihre Stimme zwitschern und gurren höre, während sie sich beschwingt entfernen nach vollbrachter Tat, nach getaner Arbeit, denke ich: möge dieser Schlüssel vergehen, möge die Stadtreinigung mit dem Seitenschneider kommen und euch von diesem Schloß befreien, bevor auch nur eins von euch sich dran erinnern muß mit Bitterkeit.
 
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Götterfunken

Die Skulptur aus Aluminiumröhren zeichnet eine weit schwingende Bewegung mehrere Meter in die Höhe, ein gefrorener Tanz. Passanten bemerken sie, oft genug mit Wohlgefallen.
Heute, an einem verhangenen Spätsommertag, fliegt heller Jubel über den Platz: Daaa! Ein kleines Mädchen stürmt zu dem Kunstwerk hin, erklimmt blitzschnell den Sockel und beginnt, die Konstruktion zu umhüpfen, ohne sie zu berühren, Blick nach oben, und ruft: Ssön!, an den Himmel, an die Welt, an Mutter und Geschwister und alle zufälligen Zuschauer gerichtet: Ssön!, Ssön!, und das ganze Kind leuchtet.
Hätte der Künstler das erlebt, es hätte ihm ein Sonntag sein müssen.
 
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Geschmacksfragen

Auf dem Wochenmarkt, am Stand des Biometzgers.
  Wieso ist denn bei Ihnen die Fleischwurst so grau?
  Wir nehmen keine Nitritpökelsalze.
  Wie, Fleischwurst ohne Salz?!
  Ohne Nitritpökelsalz. Das macht die Fleischwurst rosa.
  Also Salz ist da schon dran?
  Ja, Salz ist dran, Meersalz.
  Meersalz? Das hat meine Schwägerin auch, und bei der schmeckt’s mir immer nicht.
(Ohne Fleischwurst ab.)

Vom Vermögen

Einmal beobachtete ich zwei Jungen auf einem sonst mittäglich leeren Schulhof. Der Große, elf, zwölf Jahre alt, fuhr mit dem Skateboard auf ein niedriges Mäuerchen zu, sprang in die Luft, wobei er das Board mit sich riß, daß es sich in der Luft drehte, und vesuchte mittig auf dem Board und auf der Mauerkrone zu landen. Immer wieder nahm er Anlauf, sprang, drehte; immer wieder entglitt ihm das Board, blieb auf der Strecke oder polterte auf der anderen Seite des Mäuerchens zu Boden.
Der Jüngere, vielleicht sieben, saß auf der Eingangstreppe und beobachtete diese Bemühungen ernst und gebannt, sah Anlauf, Scheitern, den nächsten Anlauf, Verbesserungen, Rückschläge, erneuten Versuch, und als der Ältere eine Pause einlegte und die Rollen seines Boards kontrollierte, stellte er sich zu ihm und fragte …