Das Kind war etwa zwei Jahre alt. Wo andere Kinder ein Stofftier haben, schleppte dieses wechselnde Bücher mit sich herum. Wann immer es brenzlig wurde – müde, Streß, blöder Tag –, da jammerte es: Mein Buch, mein Buch! Nur eine Geschichte aus dem Buch machte alles wieder gut.
Einmal waren wir auf dem Spielplatz, da trat das Unglück ein: das Kind war hingefallen, die Mutter hatte es abgestaubt, auf eine Bank gesetzt und wollte nun das Buch aus der Tasche ziehen, da war es nicht da. Vergessen. Kein Buch. Die Tränen begannen zu fließen, der Jammer türmte sich. Ich laufe, sagte die Mutter, schnell eins kaufen, paßt du solange auf?, und schon stürzte sie davon.
Ich setzte mich neben das haltlos weinende Kind auf die Bank und begann, in meinem Rucksack zu kramen. Ah, da ist es ja. Als ich mit großer Sorgfalt und beiden Händen – nichts hervorholte, wurde das Schluchzen leiser. Hier ist mein unsichtbares Buch. Komm, ich lese dir eine Geschichte vor.
Ich blätterte, guckte ins Inhaltsverzeichnis und entschied mich für eine Geschichte. Das Kind folgte fasziniert meinem Finger, hörte sich die Geschichte an, betrachtete die Illustrationen, und als ich das Buch zuklappte und wieder im Rucksack verstaute, waren die Tränen vergessen. Oder, fragte ich, soll ich es dir schenken?
Da grinste das Kind ein kleines bißchen: Brauchst du nicht. Ich habe zuhause ganz genau so eins.
(Die Mutter kam kurz darauf wieder mit einem Notkauf. Stellte sich heraus, auch dieses Buch hatte das Kind schon im Regal stehen.)
Ob die Tage uns herumscheuchen oder langweilen, ob sie voller Furcht und Ungewißheit sind oder einfach nur öde – es geht nichts über eine gute Geschichte. Sei es eine vertraute, die wie eine Decke wärmt, oder eine unerhörte, eine Reise ins Ganzwoanders. Grundlegend ändern kann sie ja meist nichts, aber sie kann uns ein paar Minuten oder auch Stunden davontragen.
Sollten wir uns nicht Geschichten erzählen?