Man weiß es nicht

Ist es Dorf, ist es Stadt? Das kommt drauf an. Wer hier bleibt, sagt: Stadt.
 
Der letzte Lebensmittelladen im Ort hat aufgegeben, als im Gewerbegebiet der Discounter kam. Kurz danach der Metzger; der nächste wird der Bäcker sein. Was die alten Leute machen? Die Nachbarn kaufen ein; man kennt sich schließlich.
 
Ständig die freundlichen Fragen, wann er den Sichtbeton von seinem Anbau denn verputzen will. Der junge Architekt runzelt die Stirn. Alles Wohnspießer hier; reißen die jahrhundertealten Höfe ab und setzen sich Einfamilienhäuser hin, mit Doppelparkplatz zur Straße.
 
Ach, und das Fräulein, die Pfarrhaushälterin, ist jetzt auch tot. Wie der Pfarrer gestorben war damals, hat sie ihn schön gemacht, die ganze katholische Gemeinde ist gekommen, und da lag er auf seiner Seite vom Doppelbett; alles voller Blumen. Bis zum Schluß hat sie dann noch allein im Pfarrhaus gewohnt, der neue Pfarrer war ja schon nicht mehr vor Ort; jetzt hat’s die Gemeinde verkauft.
 
Die Sowiesos? Ei, mit dene rede mir nit; wieso, müsse Se die Oma frage, die weiß des noch.
 
 

0 thoughts on “Man weiß es nicht

  1. Die einleitende Frage wäre nicht so leicht ins Englische zu übersetzen, denn town kann sowohl Stadt als auch Dorf (neben “village”) bedeuten.
    Wie gut, dass es wenigstens noch Nachbarn gibt, die für andere einkaufen. Sonst müssten rollende Tante Emmas her oder Hofläden mit Lieferservice. Von Discountern kann man solche Extras nicht erwarten. Oder vielleicht doch? Wenn die Bratbuden mit dem großen gelben M jetzt sogar am Tisch servieren?

    1. Ha, aber kein Fall für http://untrans.eu; schließlich gib’s ja auch noch city.
      Hm; was werden wir tun, wenn die Grüne Wiese dermaleinst zu weit ist? Essen im Netz bestellen? Oder erledigen das dann unsere intelligenten Kühlschränke für uns (sie kennen uns schließlich)?
      Das mit den Bratbuden wußte ich gar nicht. Heißt das, die wird’s bald nicht mehr geben?

      1. Die “city” habe ich bewusst ausgeklammert, denn es gibt zwar sehr kleine “cities” (die kleinste in GB ist Bangor), aber das sind nie Dörfer.
        Ich hatte auch kurz überlegt, ob Alte und Kranke dann ein Sträußchen Petersilie im Internet bestellen müssen, aber ob die überhaupt Netzanschluss haben? Intelligente Kühlschränke dann wohl eher auch nicht.
        Keine Ahnung, wie lange es das gelbe M noch gibt. Zunächst sind das nur ein paar handverlesene Filialen. Man hofft, so den Umsatzrückgang aufhalten zu können. Frikadellen – ob mit oder ohne Fleisch – werden wohl nie aussterben, auch ohne Pappdeckel drumherum.
        Übrigens las ich erst gestern, dass M einige seiner Angestellten jetzt mehr Lohn bezahlt. Die müssen ja wirklich verzweifelt sein. 😉

    2. Jetzt habe ich mich in Bangor vertüdelt, das ist aber auch –! Mit Universität sogar.
      Die Bratbuden müßten ja nur durchhalten, bis der Veganismus ausgrassiert hat; nicht daß mir was dran läge.

      1. I was totally unimpressed by this so-called city. Aber ein Gutes hat sie: Mehrmals pro Stunde fahren lokale Busse binnen 15 Minuten zur Insel Anglesey.
        In mehreren Hamburger Stadtteilen haben die Tempel amerikanischer Esskultur bereits dichtgemacht. Das schlimmste war der Geruch, der ihnen entströmte. Dann doch lieber alle zehn Jahre mal ne Currywurst und an Uwe Timm denken. Und an Grönemeyer sowieso.

    3. Stimmt — sieht aus wie Holz. Hm. Man müßte versuchen, es anzuheben. Oder anzustecken …
      (Übrigens hätte ich das Bett auch nicht gemocht; ich finde, der Behang beißt sich mit dem Rest der Welt.)

  2. Ich danke Ihnen sehr für Ihre eindrückliche Skizze.
    Durch einige solcher kleinen Gemeinwesen bin ich gerade erst gekommen.
    Mit Ihren Sätzen haben Sie der Tristesse ein wenig Farbe verliehen.
    Abendschöne Grüsse aus dem Bembelland

  3. Eine Geschichte, wie sie häufig vorkommt… das Sterben der kleineren Städte ist so häufig zu beobachten, meine Heimatstadt ist da nicht anders…
    Danke für so dicht erzählte Geschichte, lakritze!

    1. Ich denke ja immer noch, die kleinen Städte — kurze Wege, auch ins Grüne, und alles da für eine ordentliche Infrastruktur — könnten der Rückzugsort für die vertriebenen Großstädter werden. Müssen sie nur noch ein bißchen durchhalten …

  4. “Hat ihn schön gemacht”, hinter dem Satz steht ein ganzes Lebensgefühl, eine Lebensweise, scheint mir, jedenfalls lese ich diese Formulierung und es ist, als würde sich eine Tür mit ganz viel (Bekanntem und Halbvergessenem) dahinter öffnen.

    1. Oh, das freut mich ganz extraordinär. Da ist tatsächlich noch ein bißchen was von dem, der mir die Geschichte erzählte, mitgekommen. Man muß ja immer so viel weglassen …

  5. Das kleinteilige Muster des Stoffes, aus dem die Geschichte gewebt ist, kommt mir sehr bekannt vor. Du hast es wieder einmal sehr gut auf den Punkt gebracht.

  6. Hast Du “Vor dem Fest” von Saša Stanišić gelesen? Ich glaube, Du würdest es mögen. Das Thema ist ein bisschen anders, das “kleinteilige Muster” jedoch ein ähnliches.

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