Zur späteren Verwendung

Kleider machen Leute: Q wie Quilt.
 
Die Textilkünstlerinnen stellten aus, Gestelle und Vitrinen voller verfremdeter, zerstörter, umgedeuteter Dinge aus Stoff; ganze Geschichten, mit Nadel und Faden erzählt. Ein Stück fiel schon von weitem auf: Hinter Glas leuchtete ein Quilt in allen Regenbogenfarben, ebenmäßig und harmonisch; viel, viel Arbeit mußte der gekostet haben. Darunter hing ein Schild: Die Krawatten meines verstorbenen Mannes.
Ein älteres Ehepaar blieb vor der Vitrine stehen, er offensichtlich weniger interessiert als sie; aber er zuckte doch zusammen, als sie mit leuchtenden Augen sagte: Ist das inspirierend! Guck mal, du hast doch auch so viele …
 
Mit R: gegen Regen die richtige Kleidung
 
 
 

Götterfunken

Die Skulptur aus Aluminiumröhren zeichnet eine weit schwingende Bewegung mehrere Meter in die Höhe, ein gefrorener Tanz. Passanten bemerken sie, oft genug mit Wohlgefallen.
Heute, an einem verhangenen Spätsommertag, fliegt heller Jubel über den Platz: Daaa! Ein kleines Mädchen stürmt zu dem Kunstwerk hin, erklimmt blitzschnell den Sockel und beginnt, die Konstruktion zu umhüpfen, ohne sie zu berühren, Blick nach oben, und ruft: Ssön!, an den Himmel, an die Welt, an Mutter und Geschwister und alle zufälligen Zuschauer gerichtet: Ssön!, Ssön!, und das ganze Kind leuchtet.
Hätte der Künstler das erlebt, es hätte ihm ein Sonntag sein müssen.
 
Beitrag zum Projekt *.txt (10: Glück). Kein neuer würde besser passen.
–> alle meine *.txte

Ton und Licht

Eines der ältesten Handwerke der Menschheit ist sicher das des Töpfers: Schüsseln und Krüge, wasser- und hitzebeständig, waren an jedem Feuer notwendig. Nutzen allein genügte schon den steinzeitlichen Menschen nicht: sie verschönten ihre Keramik mit Abdrücken, Ritzungen, Farben, Glasuren, erfanden zweckdienliche Formen, brachten Henkel, Tüllen und Deckel ins Spiel — so begrenzt das Thema, so unendlich vielfältig seine Ausführung. Und seit Tausenden von Jahren gestalten Keramikkünstler die ganze alte Sache immer wieder neu.

Gotlind und Gerald Weigel leben im rheinhessischen Gabsheim; in einem Gehöft mitten im Dorf wohnen und arbeiten sie, umgeben von hundertjährigen Ziegelmauern. Sie sind in der Kunstwelt bekannt, vielfach ausgezeichnet; Sammler kommen von weit her zu ihren jährlichen Werkstattausstellungen.

Gerald Weigels massige Gefäße sind Aufbaukeramik. Sie sehen beinah steinern aus, grau oder in den rheinhessischen Ziegelfarben, und in ihre engen Öffnungen möchte man Efeu drapieren. Dieses Jahr hat er sie aufgebrochen, Scherbe an Scherbe gesetzt und ihnen flirrende Schatten verliehen.

Gotlind Weigel hingegen dreht ihre Keramiken auf der Töpferscheibe. Sie wirken in diesem Jahr zart und licht. Weiße Kugelvasen tragen fließende Kragen oder verbergen ihre Öffnung zwischen glatten Blütenblättern; durchscheinend helle Schalen stehen in rauhen, grauen Keramikhüllen, als hätten sie sie eben abgestreift.

Kugelvasen (Gotlind Weigel)Kugelvase (Gotlind Weigel)

Ich bewundere, wie mühelos sie sich in Stilleben fügen, und weiß zugleich: Im Notfall ließe sich mit diesen Krügen Wasser schöpfen, in diesen Schalen Getreide lagern. Das macht sie in meinen Augen noch schöner.

Kunst, Handwerk und Eierbecher 6

Kunsthandwerker sind fahrendes Volk; wo ein Markt ist, da ziehen sie hin und zeigen ihre Waren. Lenkt man den Blick etwas weg von den ausgestellten Schönheiten und schaut sich das Drumherum und Untendrunter an, so sieht man’s: leichte Standkonstruktionen, Klapptische mit schwungvollen Tüchern, das alles effektvoll illuminiert von Steckleuchten — meist nicht mehr als eine Kofferraumfüllung, im Fluge auf- und wieder abgebaut.

In Darmstadt findet einmal jährlich die KunstObject statt, eine kleine, renommierte Schau ausgesuchter Kunsthandwerker. Ein Saal der Orangerie verwandelt sich nach dem Aufbau der Stände in ein Schmuck- und Schatzkästchen mit lauter schönen, originellen und erstaunlichen Dingen: Kleidung, Schmuck, Skulpturen, praktische Schönheiten und wunderbarer Unsinn — man könnte zum Sammler werden an diesen beiden Tagen.

Verlockend, unter vielen anderen: die Riesen- und die Taschenkaleidoskope von M. & U. Karl, nicht nur hypnotisch, sondern auch noch gut anzufassen; Kombinationen aus Papier und Filz in herrlichen Farben von Wiebke Steinwedel; Kim Ehrentrauts außergewöhnlicher Schmuck aus Silber, farbigen Perlchen und alten Fotos in Email; die unbegreiflich zarten Klöppelkreationen von Stefanie Kölbel; tatsächlich ein richtiger Schuhmacher mit robusten wie schönen Schuhkreationen, natürlich maßgefertigt — genug zu schauen für eine, ach was, für zwei Wochen. Und wenn ich könnte, wie ich wollte, würde ich hier schwer bepackt von dannen ziehen.

Eierbecher Nummer Sechs wirkt zwischen all der fedrigen Eleganz zwar ein bißchen wie die ältliche Verwandtschaft vom Lande, hat es aber immerhin in eine Schmuckvitrine geschafft.

Mehr Garn

Gruschwitz Leinenzwirn 30, 20m

Die Schönheit der kleinen Dinge, die jeden Tag durch unsere Hände gehen: die Künstlerin Monika Mosburger vermag sie festzuhalten. In ihrer Sammlung haben sich Gegenstände des täglichen Lebens aus den vergangenen hundert Jahren und mehr erhalten. Sie fügt sie zu Bildern zusammen, die so vertraut scheinen, aber bei genauerem Blick auf Abwege führen: Was näht man eigentlich mit englischem Glacé-Garn? Auf welchen internationalen Ausstellungen wurde Zwirn prämiert? Und wie es wohl kommt, daß sich der Himmel in einem hundertjährigen, schwarzen Leinenfaden spiegelt?

Mehr Bilder …

Stich um Stich

Kirchenruine Kloster Arnsburg
Basaltmauern tragen den Himmel.

Es ist eine kleine Ausstellung an einem großartigen Ort: Das Kloster Arnsburg liegt im Waldland der Wetterau, nahe Lich bei Gießen. Die Anlage wurde 1174 von Ebersbacher Zisterziensermönchen begründet; nach der Auflösung des Klosters 1803 verfiel sie, und in einem wunderbaren Zustand zwischen Gotik, Barock und Ruine ist sie heute für die Öffentlichkeit zugänglich.

Das Dormitorium beherbergt die Ausstellung »Textile Erinnerungen«. Künstlerinnen und Kunsthandwerkerinnen aus der Umgebung zeigen hier ihre Arbeiten aus Stoff, in denen persönliche und Familiengeschichte, Innenwelten und Mythologisches verwoben sind. Auf aufgenähten Zetteln stehen die zugehörigen Geschichten und Gedanken, und so wird jedes Stück zu einer Erzählung, die an Tiefe gewinnt, je genauer man hinschaut. Von der Hochachtung gegenüber dem handwerklichen Können, das in den Werken wie auch im »Rohmaterial« steckt, ganz zu schweigen.

Ein großer Teil der Werke sind Quilts aus alten Wäschestücken, die über Jahrzehnte in den Familien gehortet wurden. Kunstvolle Stickereien, winzige Knöpfchen, Verschlußhaken und natürlich Monogramme früherer Besitzer sind wiederkehrende Motive. Bräutliches Weiß steht Trauerschwarz gegenüber; vielen Stoffen sieht man an, daß sie wieder und wieder geflickt, umgearbeitet und weiterverwendet wurden, ehe sie als Rohmaterial in die Hände der Künstlerinnen kamen.

Viele Arbeiten bleiben in Erinnerung: ein Quilt von Schülerinnen aus den 50er Jahren, der »brave Mädchen und böse Jungen« zeigt; auf zehn Bildern tragen die Mädchen Schürzen und verrichten Hausarbeiten, während die Jungen Äpfel klauen und Erwachsene ärgern. »Das Hemd meiner Großmutter« stammt von einer Künstlerin, deren Name mir entfallen ist (kann jemand helfen?); sie hat das feine, weiße Leinenhemd auf einen Teppich aus trockenen Teebeuteln gesteppt und mit Nahtlinien wie aus Schnittmusterheften überzogen. Heike Kurzius-Schick machte den Quilt »Meine 1000 Erinnerungen« aus den Krawatten ihres verstorbenen Ehemannes. Dann sind da die kraftvollen, hintergründigen Arbeiten der Märchenerzählerin Monika Mosburger, die auch aus einem reichen Fundus alter Stoffe und Gerätschaften schöpft. Ihre schwarze »Artemis« etwa besteht aus Trachtenröcken, deren gechintztes Leinen glänzt wie Metall; zahlreiche Schulterpolster sind auf den Stoff geheftet.

Diese Ausstellung ist ein Sammelbecken für Geschichten. Nicht nur das Wissen der Künstlerinnen und die Begebenheiten, die hinter den Arbeiten stehen, sondern auch alles, was die Besucherin mit sich durch den Raum trägt, was sich an dem ein oder anderen Werk verhakt und zum Vorschein kommt.

Oh, und schön — schön ist sie natürlich!

Monika Mosburger, 2010: Bettwäsche, Blaudruck

Ausstellung »Textile Erinnerungen«

26. Juni bis 11. Juli 2010

Mo bis Fr: 14–18:00

Sa, So: 10–18:00

Eintritt für die Klosteranlage: € 2,–

Samstags und sonntags jeweils um 15:00 Vorträge, Gespräche etc.

Ein Volk stellt sich aus

Ich habe mich ein bißchen verliebt. Es ist eine Fernbeziehung, übers Internet, sehr voyeuristisch und vollkommen einseitig: Sie heißt One and other von Antony Gormley.

Mein Fenster auf den Trafalgar Square
Mein Fenster auf den Trafalgar Square

Auf dem Trafalgar Square, 1820–45 angelegt, gruppieren sich um die berühmte Bildsäule Admiral Nelsons vier Sockel. Mit drei Reiterstandbildern — das vierte wurde zunächst aus Geldgründen nicht errichtet; später konnten sich die Stadtväter nicht einigen, wer auf den Sockel darf.

In einer Reihe zeitgenössischer Kunstprojekte hat nun Antony Gormley den Sockel für 100 Tage belegt. Bei ihm dürfen alle nach oben: 2400 gewöhnliche Briten, jeder eine Stunde lang, 24 Stunden am Tag. Das Ganze wird von mehreren Kameras aufgezeichnet und live per Internet übertragen.

Frauen und Männer sind gleich stark vertreten und aus jeder Region Großbritanniens so viele, wie es ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entspricht. Die Regeln sind einfach: Feuer und Waffen sind verboten, Betrunkene nicht erwünscht. Gesetz ist Gesetz. Man muß seine Stunde auf dem Sockel allein verbringen, darf sich aber kostümieren und alles an Gegenständen mitbringen, was man tragen kann.

Ein lebendiges Porträt der Menschen des Vereinten Königreichs will Gormley dort auf dem vierten Sockel erschaffen, durch ganz normale Leute, die einfach sie selbst sind. Er macht keine Vorgaben für die Stunde auf dem Präsentierteller. Nunja, »normal« ist naturgemäß etwas schwer zu fassen, und ob sich wirklich ein repräsentativer Querschnitt der britischen Bevölkerung auf diesen Sockel hieven läßt, wage ich zu bezweifeln.

Ich schaue jedenfalls jeden Tag nach, was die Briten da oben treiben. Und, oh, da gibt es was zu sehen: die Profi-Harfenistin, den Elvis-Imitator, Engels- und Tierkostüme aus Plüsch und Draht, Transparente, Luftballons und Sportgeräte. Manche nutzen ihre Stunde, um für einen guten Zweck zu werben oder für ihre Seifenfabrik; andere machen Bilder, zeichnen, fotografieren, filmen. Viele begeben sich in den Dialog mit den Zuschauern, die unten stehen, oder posieren für die Kameras. Und einige wenige machen nichts. Sie stehen oben, wie sie unten stehen würden: Statuen betrachten ihre Betrachter.

Dabei sind die »Figuren« nur ein kleiner Teil dessen, was hier passiert: Die Zuschauer auf dem Platz rufen, lachen, pfeifen, sie fangen Papierflieger, Bonbons, T-Shirts, abgeschnittene Haarsträhnen auf. Die Medien berichten unterschiedlich angetan; von Euphorie über Parodie bis hin zum Totalverriß ist alles dabei. »To plinth« ist inzwischen ein reguläres englisches Verb. Und dann sind da noch die heimlichen Beobachter im Netz, jeder mit seinen ganz persönlichen Reaktionen.

Warum schaue ich mir das an? Das, was mich an Richensas, Garganos, Hykes Blicken in fremde Fenster fasziniert, das habe ich hier in anderem Rahmen; ohne die Kontinuität, dafür mit Einwilligung derjenigen, die ich beobachte: scheinbare Intimität; ein endloses Entstehen von Geschichten in meinem Kopf, in anderen Köpfen. Menschen, emporgehoben.

Gleichzeitig kann ich das Rauschen im Netz wahrnehmen, das Echo der Präsenzen, der Aktivitäten, der Biographien auf dem Sockel: »– Großartig! — Ich bewundere Gormleys Werk! — Und das soll Kunst sein? Langweilig! — Der Mann von heute nacht um Drei sollte wirklich kein Latex tragen. — Schon wieder einer mit Mobiltelefon! — Wenn ich auf den Sockel käme, ICH würde etwas Kreatives tun … — Ihr Idioten: das ist doch alles nur ein Marketing-Gag! –«

Letztendlich sind es aber wohl doch Bilder, die mich anziehen. Die junge Frau, die unter ihrem Regenschirm wartet, daß ihre Stunde verstreicht. Der Herr im Maßanzug, der unbeweglich naß wird. Die Bibliothekarin, der ihre Aufregung ins Gesicht geschrieben steht. Der Tod auf dem weißen Fahrrad.

Und irgendwo muß es ihn doch geben, den Durchschnitt? Vielleicht kommt er hier zustande, in einer unscheinbaren Stunde auf dem vierten Sockel auf dem Trafalgar Square in London. Ich werde es mir anschauen.