Man weiß es nicht

Ist es Dorf, ist es Stadt? Das kommt drauf an. Wer hier bleibt, sagt: Stadt.
 
Der letzte Lebensmittelladen im Ort hat aufgegeben, als im Gewerbegebiet der Discounter kam. Kurz danach der Metzger; der nächste wird der Bäcker sein. Was die alten Leute machen? Die Nachbarn kaufen ein; man kennt sich schließlich.
 
Ständig die freundlichen Fragen, wann er den Sichtbeton von seinem Anbau denn verputzen will. Der junge Architekt runzelt die Stirn. Alles Wohnspießer hier; reißen die jahrhundertealten Höfe ab und setzen sich Einfamilienhäuser hin, mit Doppelparkplatz zur Straße.
 
Ach, und das Fräulein, die Pfarrhaushälterin, ist jetzt auch tot. Wie der Pfarrer gestorben war damals, hat sie ihn schön gemacht, die ganze katholische Gemeinde ist gekommen, und da lag er auf seiner Seite vom Doppelbett; alles voller Blumen. Bis zum Schluß hat sie dann noch allein im Pfarrhaus gewohnt, der neue Pfarrer war ja schon nicht mehr vor Ort; jetzt hat’s die Gemeinde verkauft.
 
Die Sowiesos? Ei, mit dene rede mir nit; wieso, müsse Se die Oma frage, die weiß des noch.
 
 

Nacht und Blatt

Am Boden.
Am Boden.

Die Dunkelheit kommt früh in die Stadt, und sie bleibt lang. Hier trägt der Herbst seine Farben eher auf der Innenseite und greift noch nicht im Ernst nach den Platanenkronen. Ab und an zupft er sich ein Blatt heraus, spielt damit, weht es um ein paar Ecken und läßt es dann liegen. Da vergeht es langsam im Asphalt, bis zum Morgen, wenn die Straßenkehrer kommen.
Im Wald strecken sich die Wege im Mondlicht und duften nach dem letzten Sommer, dem kommenden Winter und dem Frühling, der darunter schläft. In der Stadt ist mir draußen nicht draußen genug.

Sommer in der Stadt

Nominell ist es eine Großstadt, in der ich lebe, mit über hunderttausend Einwohnern. Und ich wohne mittendrin, in der City, ungefähr da, wo Google Maps den roten Punkt hinsetzt, wenn man nach meiner Stadt sucht.

Als ich hierherzog, erzählte ich der Optikerin von gegenüber: Wir sind dann ja bald Nachbarn — woraufhin sie mich entgeistert anschaute, bis der Groschen fiel: Ah, ja … wohnen kann man hier wohl auch … Ich wohne also da, wo andere Leute lieber nicht wohnen. Da, wo andere Leute arbeiten, einkaufen, ausgehen und eben mal “kurz halten” … aber das ist eine andere Geschichte.

Das Leben in der Innenstadt ist eigentlich herrlich. Ich habe die Fußgängerzone mit zwei großen Kaufhäusern vor der Haustür. Die Bioladendichte im Umkreis von hundert Metern wird höchstens noch von der Bäckerdichte geschlagen. Alle Arten von Fachgeschäften gibt es quasi in Sichtweite. Zum nächsten Kino laufe ich fünfzehn Sekunden — auch im Winter ohne Mantel möglich –, zum übernächsten eine halbe Minute. Theater, Marktplatz, Museen, Verwaltung: alles zu Fuß machbar, selbst bei Regen.

Achja, die Disco habe ich vergessen, gleich um die Ecke. Ich war noch nie drin, aber sie kommt jede Nacht zu mir: nachts um Drei ist es vor meiner Haustür lauter als tagsüber. Dann klirrt auch schon mal Glas, meinem Auto kommen Außenspiegel abhanden, und Betrunkene kegeln Mülltonnen durch die Straße — Nächte in der Stadt. Ich habe gelernt durchzuschlafen.

Das hat natürlich nichts genützt in der EM-Zeit, als nach jedem Spiel ein Autokorso um unseren Block fuhr. Immer schön die Einbahnstraße entlang, mit Hupen, Radio an und Gejohle. Die Deutschen brüllten die Nationalhymne, die Italiener spielten Opern, die Franzosen und die Türken Pop. Nachts um halb Vier. Das muß wohl manchmal sein — und jetzt haben wir wieder zwei Jahre Ruhe (also nur die Disco).

Neulich fand ich morgens zwei Gläser vor unserer Haustür, große, schwere Cocktailhumpen. Die habe ich erst mal in die Spülmaschine gesteckt. Ich nehme sie als kleine Entschädigung für all den sommerlichen Radau und trinke meinen Eiskaffee daraus.

Lakritzes Eiskaffee:
½ Glas starken, schwarzen Kaffee (noch vom Frühstück)
mit Eiswürfeln auffüllen
kalte Milch oder Sahne drübergießen, nicht umrühren

— fertig ist das urbane Sommergetränk. Tags oder nachts zu genießen, je nachdem.

eiskaffee