Biotop

Logo erzähl mir eine Geschichte Ich hätte ihn wegwerfen sollen. Der Weihnachtsstern war als Mitbringsel nett gemeint, aber schon am zweiten Tag, den er sich prachtvoll auf der Fensterbank wölbte, bemerkte ich winzige schwarze Fluginsekten überall in der Wohnung. Sie zielten auf schwarze Flächen, tanzten über meiner Kaffeetasse auf und ab und gerieten mir gelegentlich in die Augen. Wenn ich den Weihnachtsstern goß, erhob sich eine Wolke von ihnen aus dem Übertopf: Trauermücken. Gleich nach den Feiertagen würde ich Gelbstecker kaufen, klebrige Kunststoffstücke, an denen Insekten hängenbleiben.

Doch dann, im Zwielicht eines frühen Januarabends, meinte ich aus dem Augenwinkel eine rasche Bewegung in der Luft zu bemerken. Kein Trauermückenzucken, sondern etwas größeres. Tage später wußte ich, daß ich mir das nicht eingebildet hatte, als ich auf dem Gelbstecker etwas fand, das aussah wie sehr kleine Federn. Und tatsächlich war am frühen Morgen aus dem Wohnzimmer ein winziges Zwitschern zu hören, ein Lied aus zarten Pfiffen. Es dauerte ein paar weitere Tage, bis ich das Nest entdeckte: gut verborgen in der Krone des Weihnachtssterns, aus Pflanzenfasern und ein bißchen Staub zusammengefügt, klein wie ein Fingerhut, darin vier Eier. Den Gelbstecker warf ich weg.

Bald lagen bläuliche Eierschalen unter der Fensterbank am Boden, und von da an gaben die Vögel, tarnfarben und stubenfliegengroß, die Geheimniskrämerei auf. Halsbrecherisch jagten sie um die Lichtquellen in der Wohnung herum. Die Trauermückendichte nahm merklich ab; ich legte ein Blatt Papier unter die Fensterbank.

Eines Morgens lag ein totes Jungvögelchen darauf, und ich machte mir Sorgen. Tatsächlich: die Alten kamen nicht nach mit der Jagd, so hungrig war die Brut. Ich ging und kaufte eine weitere Zimmerpflanze; nach wenigen Tagen schien das Nahrungsangebot wieder zu stimmen. Später hatte ich große Freude an den Flugstunden, die vom Rand der Stehlampe aus stattfanden.

So ging das nun: die Vögel bauten Nester, brüteten und wurden flügge; ich sorgte dafür, daß die Nahrung nicht knapp wurde, indem ich neue Topfblumen anschaffte. Es war eine schöne, gleichmäßig fließende Zeit, in der jeder tat, was getan werden mußte.

Im Sommer dann fand ich auf dem untersten Brett im Bücherregal ein Häuflein Federn und blutiger Knöchelchen. Den Jäger selbst bekam ich nie wirklich zu Gesicht; nur hin und wieder die Reste seiner Mahlzeiten und zierliche Tatzenabdrücke im Staub an selten gewischten Stellen. Eine Zeitlang wurden die Vögel weniger und die Mücken mehr, und ich überlegte, ob ich etwas unternehmen müßte, aber bald hatte sich das Ganze eingependelt. Nachts trappelt und faucht es manchmal zwischen den Blumentöpfen, tagsüber sind die Neuankömmlinge sehr scheu. Ihre Höhle scheint sich unter der Anrichte zu befinden; ich habe noch nicht nachgeforscht.

Es gibt jetzt viel, um das man sich kümmern, das man putzen und wegmachen muß: Blätter und Zweige, Hinterlassenschaften der Vögel, Raubtierlosung. Dafür erfreuen mich Vogellieder und Flugakrobatik und die geheimnisvollen Spuren der Jäger. Auch unter der Anrichte scheint es Nachwuchs zu geben. Ich kann das hören: Gequieke und Herumgepurzel.

Heute früh nun, als ich trockene Blätter von den Pflanzen zupfte, entdeckte ich im großen Topf der Birkenfeige eine Reihe streichholzlanger Zweige, nebeneinander in die Erde gesteckt und mit Faserstricken verbunden. Sogar ein Durchlaß mit einem geflochtenen Tor ist darin, sorgfältig verschlossen mit einem winzigen, aber tüchtigen Knoten.

Seither sitze ich auf dem Sofa und weiß nicht so recht.

Erzähl mir eine Geschichte!

Das Kind war etwa zwei Jahre alt. Wo andere Kinder ein Stofftier haben, schleppte dieses wechselnde Bücher mit sich herum. Wann immer es brenzlig wurde – müde, Streß, blöder Tag –, da jammerte es: Mein Buch, mein Buch! Nur eine Geschichte aus dem Buch machte alles wieder gut.

Einmal waren wir auf dem Spielplatz, da trat das Unglück ein: das Kind war hingefallen, die Mutter hatte es abgestaubt, auf eine Bank gesetzt und wollte nun das Buch aus der Tasche ziehen, da war es nicht da. Vergessen. Kein Buch. Die Tränen begannen zu fließen, der Jammer türmte sich. Ich laufe, sagte die Mutter, schnell eins kaufen, paßt du solange auf?, und schon stürzte sie davon.

Ich setzte mich neben das haltlos weinende Kind auf die Bank und begann, in meinem Rucksack zu kramen. Ah, da ist es ja. Als ich mit großer Sorgfalt und beiden Händen – nichts hervorholte, wurde das Schluchzen leiser. Hier ist mein unsichtbares Buch. Komm, ich lese dir eine Geschichte vor.

Ich blätterte, guckte ins Inhaltsverzeichnis und entschied mich für eine Geschichte. Das Kind folgte fasziniert meinem Finger, hörte sich die Geschichte an, betrachtete die Illustrationen, und als ich das Buch zuklappte und wieder im Rucksack verstaute, waren die Tränen vergessen. Oder, fragte ich, soll ich es dir schenken?

Da grinste das Kind ein kleines bißchen: Brauchst du nicht. Ich habe zuhause ganz genau so eins.

(Die Mutter kam kurz darauf wieder mit einem Notkauf. Stellte sich heraus, auch dieses Buch hatte das Kind schon im Regal stehen.)

 

Ob die Tage uns herumscheuchen oder langweilen, ob sie voller Furcht und Ungewißheit sind oder einfach nur öde – es geht nichts über eine gute Geschichte. Sei es eine vertraute, die wie eine Decke wärmt, oder eine unerhörte, eine Reise ins Ganzwoanders. Grundlegend ändern kann sie ja meist nichts, aber sie kann uns ein paar Minuten oder auch Stunden davontragen.

Sollten wir uns nicht Geschichten erzählen?

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Falls mir wer eine Geschichte erzählen mag: hier ist ein Bildchen zum Dranhängen.

 

Kurschatten

Ich sage das nicht, um anzugeben, aber wenn du wüßtest, wie viele mich angesprochen haben, seit ich hier bin … und sie alle wollten …! Männer! Naja, guck dich um, was hier sonst rumläuft; da stürzt man sich auf die, die nicht scheintot ist. Einer ist richtig attraktiv … aber nein, ein Kurschatten, da käme ich mir ja vor wie meine eigene Großmutter! Und Zeit hab ich sowieso nicht, Anwendungen den ganzen Tag, das muß man ja auch alles …

Siehst du den? Der ist immer zufällig frühstücken, wenn ich … und gar nicht so schlecht, das Frühstück, gesund und so, aber sie geben sich Mühe; trotzdem, ins Café kann man mal gehen, bißchen sündigen, man achtet ja sonst auf die Figur. Hier, die Baisertörtchen, die sind herrlich, erinnern mich an ganz früher, bei uns daheim, mit Johannisbeeren wie aus dem Garten, so bitzelsauer, die haben meine Schwester und ich immer heimlich, um Vati eins auszuwischen —

Dann hab ich ja das Doppelzimmer noch mal abgewendet, also nein, man hat ja seine Gewohnheiten, und mit Wildfremden, also, mir reicht das schon, die alle beim Frühstück zu sehen. Guck, den da hinten, den kenn ich auch, hat mir am zweiten Tag ganz unverschämt in den Ausschnitt, aber ganz unverschämt. Männer.

Wie’s mir geht? Wie meinst du das? Ach, alle ganz reizend hier, manche bißchen aufdringlich, aber sonst ganz reizend, und das tut meiner Haut gut, die Seeluft und die Anwendungen, wie’s mir geht? Also, was soll ich denn dazu sagen. Das kann ich dir morgens nach dem Duschen sagen, schöne geräumige Duschen haben sie hier; an guten Tagen bin ich ganz fix durch, aber wenn ich aus dem Bad komme und gucke auf die Uhr und eine halbe Stunde ist rum, dann ist das alles nicht so. Aber sonst geht’s mir natürlich gut, in Kur, wie soll’s da auch sonst, na klar.

Novembergedanken

Im November, wenn die Dunkelheit sich täglich mehr und mehr Augenblicke nimmt, kommt die Zeit des Erinnerns. Nicht umsonst drängen sich jetzt die Gedenktage: im Dunkeln sieht man die Geschichten deutlicher als die Gesichter derer, die sie erzählen.
Ich denke an die Novemberbesuche bei der Großmutter, wenn das Abendessen abgetragen war und Likör gelblich in den Schnörkelgläschen stand; die Welt zog sich von den Doppelfenstern in die Nacht zurück, und wir Kinder am Tischrand wurden unsichtbar …

Zu schnell

Das Auto hinter mir fährt dicht auf, drängelt an der roten Ampel, obwohl die Straßen leer sind zu dieser nachtschlafenden Zeit. Na, denke ich, der hat’s aber wichtig. Dann überholt mich der Wagen mit aufbrüllendem Motor; Idiot. Als ich aber sehe, wohin er ohne zu blinken abbiegt, schlägt mein Ärger um. Es ist das Gelände der Uniklinik; diese Einfahrt führt zu den Pavillons der Intensivstation mit ihren ewig heruntergelassenen Jalousien, und Parken ist hier streng verboten.
Ich wünsche dem Drängler von ganzem, heißem Herzen, daß er schnell genug ist.
 
 
 
 
 
 

Ohne S.

Zum Abschied aus dem Kindergarten durften alle Vorschulkinder eine Nacht im Zelt schlafen. Decken und Matratzenlager und Hagebuttentee. Aus dieser Nacht stammt meine erste dokumentierte Erinnerung an S.: Ein Foto zeigt uns beide in einer Ecke des Zeltes, Kopf an Kopf, in eine Decke gehüllt, anscheinend in ein Gespräch vertieft. Ich schaue mit großen Augen ins Weite, S.  grinst mit weißen Zähnen und drei netten Grübchen. Ich nehme an, wir spielten mein Lieblingsspiel: zwei Kinder wären verloren gegangen in Sturm und Schnee und hätten sich eine Höhle gebaut.
Er kam dann in meine Klasse …

Im Vorübergehen

Der Weg macht es mir leicht: ein rascher Anstieg bis zum Wald, dann auf Forstwegen über den Höhenrücken hin. Tief liegt der Schnee und knirscht bei jedem Tritt. In Siedlungsnähe ist er festgewalzt und spiegelglatt; ich gehe sicherer, wo ich noch eine frische Spur ziehen kann. Dann verlieren sich alle Fußspuren; bald sehe ich nur noch die von Traktorreifen, deren Profile der Schnee nicht ganz zudecken konnte, und ich bin froh um meine Wanderstiefel.
Sanft hat mich die Strecke auf eine Anhöhe getragen. Der Waldsaum weicht zurück, und von den Feldern überschaue ich weithin das Flußtal, wo sich grau in weiß Dörfer knäueln. Selbst den bewaldeten Hügeln sieht man bis auf die weiße Haut. Schneeflächen überstrahlen den Himmel. Es beginnt in winzigen Kristallen zu schneien; Wind dringt in meine Jacke, und ich mache mich wieder auf den Weg, der sich in einer Kurve am Hang entlangzieht.
Es dauert eine Weile, bis ich die beiden Gestalten wahrnehme, die mir entgegenkommen …

Finstere Geschichten

Der Wanderweg führt an einem dörflichen Totenacker vorbei: Bodendecker um Granitsteine mit einer Handvoll Namen, gut lesbar über die hüfthohe Hecke hinweg.
Außerhalb der Umfriedung, in dem schmalen, abschüssigen Streifen Gras, der eingezwängt ist zwischen Hecke und Weg, liegt eine schwarze Grabplatte. Die Namen zweier Eheleute stehen darauf, der des Mannes schon verblichen, sein Todesjahr 1952; die Frau starb 1986.
Die Vorstellung: wie sie mehr als dreißig Jahre dieses Grab hinter der Hecke besucht haben muß.
*
Im Haus der Großmutter tickten Uhren uns Kinder in den Schlaf. Jedes Jahr kamen wir zu Besuch, und jedes Jahr gaben dieselben Zahnräder und Läutwerke den Hintergrund für unsere Träume. Uhren über Uhren, seit Jahrzehnten in diesen Zimmern — wir fragten die Großmutter danach.
   Euer Großvater, sagte sie, hatte hier seine Uhrmacherwerkstatt. Die Leute haben ihre Uhren hergebracht, damit er sie in Ordnung bringt.
   Und dann?
   Dann haben sie sie heile wieder abgeholt.
   Sind die Uhren hier denn nicht heile?
   Nu, die sind alle repariert!
   Dann will die einfach keiner mehr haben?
Viel später erst begriff ich, daß die Uhren, die seit dem Krieg in der großelterlichen Wohnung immerzu abliefen und wieder aufgezogen wurden, Verschollenen gehört hatten. Gefallenen. Deportierten.
*
Als der Liebste schon eine lange Weile krank war, ließ er sich ein Buch schicken, das war gepriesen worden: ein »wichtiges«, ein »starkes Werk«, ein »Buch für diese Zeit«.
Dann lag es gelesen neben seinem Bett, und er sagte still und mit zwei steilen Falten auf der Stirn: Zeitverschwendung, das sei es gewesen.
Da hatte er noch vier Monate zu leben.
Ach, daß ich ihn nicht bewahren konnte vor diesem Buch.

L. tischt auf

Meist sind es Reste, es muß was weg, da hat sie noch ein wenig übrig, und ein Wein wird sich auch noch finden … Fragt sie: Willst du nicht zum Essen bleiben?
Sitzt man dann in ihrer Küche, wo das Gespräch sich in Weiten und Fernen vertieft, schmurgeln nebenbei Dinge in Töpfen und brutzeln in Pfannen, und zu den Worten gesellen sich die Düfte. So schlingt sich die Aufmerksamkeit immer fester um das, was kommen wird. Es entsteht eine gedeckte Tafel; schöne und nützliche Gerätschaften lagern sich vor den Gästen, und dann, dann tischt L. auf.
Schüsseln und Schalen, eine Suppe, eine Pfanne, ein Topf; hier ein Ende Wurst, dort ein Stück Speck, dazu das selbstgebackene Brot, warm so wunderbar wie nach einer Woche noch, und Kräuter, die ihr auf dem Fensterbrett gediehen sind.
Was da so schlicht und schmucklos daherkommt, entfaltet sich auf der Zunge zu Welten. Und zu jedem Gericht gibt es ein Küchen- oder ein Lebensgeheimnis, eine Reise, einen Menschen; die Geschichten geben dem Geschmack zusätzliche Dauer. Die Gesichter der Gäste beginnen zu glänzen. Gegessen wird, was auf den Tisch kommt, denn alles andere wäre ein Versäumnis, wäre unerhört.
Am Ende, wenn keiner mehr kann, zaubert sie noch einen Nachtisch her mit einem schönen Namen. Und das Wunder, es bleibt nicht aus: der geht dann auch noch.
Also, wenn sie fragt: willst du nicht zum Essen bleiben? –: Niemals, auf überhaupt gar keinen Fall Nein sagen!

Drei kurze Geschichten über die Zeit

1.
Letzte Woche habe ich einen Kalender für das kommende Jahr gekauft und angefangen, Termine einzutragen. Damit ist die Illusion dahin, das Neue Jahr könnte ein wirklich neues sein; es ist eingeteilt, planbar und viel zu kurz, wie alle vorigen auch.
2.
Als wir klein waren, fuhren wir jedes Jahr zur Großmutter, fünfhundert Kilometer über ödes Land in eine winterlich-düstere Stadt. Ihre Wohnung, um einen enormen Kachelofen herum angelegt, stand voller Uhren – nicht abgeholten Uhren von Kunden des Großvaters, der hier vor dem Krieg seine Werkstatt hatte; wie nach ihm seine Tochter und schließlich deren Tochter auch. Uhren bevölkerten jede Fläche, drängten sich auf allen Schränken, auf den Fensterbänken, auf Anrichten und sogar auf den Tischen. Alle Uhren gingen; sie wurden regelmäßig aufgezogen, gewartet und repariert, wo nötig. Jede zeigte eine andere Zeit.
Unabhängig von Tag und Nacht klingelten, dröhnten und schepperten sie, was sie für die zu schlagende Stunde hielten. Schwiegen einmal alle Läutewerke, so hörte man sie ticken, Heerscharen alter Wecker, die Wand- und Schrankaufsatzuhren, porzellanene Zierührchen und drei, vier Großvateruhren auf dem Flur; man konnte anhand ihres Herzschlags mit geschlossenen Augen durch die Wohnung finden.
Der Vater, Verfechter preußischer Tugenden, mißbilligte diese Anarchie auf den Zifferblättern. Mehrmals regte er an, doch einmal sämtliche Zeitmesser auf Gleichschritt zu trimmen. Die Antwort war stets dieselbe: Nu, du bist hier bei Uhrmachers daheim.
Wir Kinder lernten, unter der Brandung der Zahnräder einzuschlafen und von keinem Glockenschlag wach zu werden, sondern erst vom Licht des Morgens.
Das ist viele, viele Jahre her. Was aus den Uhren des Großvaters geworden ist, weiß ich nicht.
3.
Ich habe neuerdings eine Wanduhr, ein schwarzes, glänzendes Quadrat. Sie empfängt, ganz Stand der Technik, das Signal des genauesten Zeitgebers per Funk. Doch wo andere stur 20:36:23 … 24 … 25 … durchblinken, da sagt meine Uhr: zehn nach halb neun, in freundlich leuchtenden Buchstaben. Und sie meint es wahrhaftig nur so ungefähr.