Kurschatten

Ich sage das nicht, um anzugeben, aber wenn du wüßtest, wie viele mich angesprochen haben, seit ich hier bin … und sie alle wollten …! Männer! Naja, guck dich um, was hier sonst rumläuft; da stürzt man sich auf die, die nicht scheintot ist. Einer ist richtig attraktiv … aber nein, ein Kurschatten, da käme ich mir ja vor wie meine eigene Großmutter! Und Zeit hab ich sowieso nicht, Anwendungen den ganzen Tag, das muß man ja auch alles …

Siehst du den? Der ist immer zufällig frühstücken, wenn ich … und gar nicht so schlecht, das Frühstück, gesund und so, aber sie geben sich Mühe; trotzdem, ins Café kann man mal gehen, bißchen sündigen, man achtet ja sonst auf die Figur. Hier, die Baisertörtchen, die sind herrlich, erinnern mich an ganz früher, bei uns daheim, mit Johannisbeeren wie aus dem Garten, so bitzelsauer, die haben meine Schwester und ich immer heimlich, um Vati eins auszuwischen —

Dann hab ich ja das Doppelzimmer noch mal abgewendet, also nein, man hat ja seine Gewohnheiten, und mit Wildfremden, also, mir reicht das schon, die alle beim Frühstück zu sehen. Guck, den da hinten, den kenn ich auch, hat mir am zweiten Tag ganz unverschämt in den Ausschnitt, aber ganz unverschämt. Männer.

Wie’s mir geht? Wie meinst du das? Ach, alle ganz reizend hier, manche bißchen aufdringlich, aber sonst ganz reizend, und das tut meiner Haut gut, die Seeluft und die Anwendungen, wie’s mir geht? Also, was soll ich denn dazu sagen. Das kann ich dir morgens nach dem Duschen sagen, schöne geräumige Duschen haben sie hier; an guten Tagen bin ich ganz fix durch, aber wenn ich aus dem Bad komme und gucke auf die Uhr und eine halbe Stunde ist rum, dann ist das alles nicht so. Aber sonst geht’s mir natürlich gut, in Kur, wie soll’s da auch sonst, na klar.

Zum guten Schluß

Ruhig lautet die letzte Vorgabe im Projekt *.txt, von dem ich in diesem Jahr Anregung für allerhand Geschichtchen mitgenommen habe, damit es nicht gar so still wird auf meinem kleinen Blog. Ich mag so was ja; ich habe schon als große Schwester meine Gute-Nacht-Geschichten nach Stichwörtern erzählt.
So kommunikativ wie vielleicht erwartet wurde das Ganze nicht, aber ich habe zu meiner Freude (neben alten Bekannten) einige mir neue Blogs entdecken können, wie lamamma und Frau Frogg, den Wortmischer oder auch Carsten.
Dank an Dominik Leitner, der das Ganze angestoßen, organisiert und gewartet hat (und das im kommenden Jahr fortführen wird, wenn ich recht lese). Und natürlich allen, die mitgeschrieben und gelesen haben; mir war’s ein Vergnügen, mich alle drei Wochen durch die Beiträge zu klicken.
Ach ja, einen Text zum Thema? Gibt es längst. Und damit wünsche ich allen die genau richtige Dosis Ruhe zwischen den Jahren.
 
Beitrag zum Projekt *.txt (17: ruhig).
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Weit weg

Seit seine Frau gestorben ist, nach kurzer schwerer Krankheit, ist ihm die Zeit zu weit geworden wie ein ausgeleierter Pullover, oder er ist geschrumpft, daß er sich drin verheddert, manchmal.
Manchmal sitzt er morgens, nichts im Blick, und schaut er auf die Uhr, ist schon vier, wird sie ihn gleich rufen zum Kaffee; doch wie es dunkel ist, sitzt er da immer noch. Manchmal klingelt ein Telefon im Haus, soll sie mal drangehen, sie hatte das Telefon lieber als er, immer schon. Kommen Leute und reden — nicht sie, sie täte das nicht, nicht so — von Terminen oder Unterschriften oder Medizin, aber muß er nur die Augen schließen: davon geht das alles restlos vorbei, ganz ohne ihn. Macht ihr nur, macht nur.
Viele Tage sind Nacht, wenn er aus dem Fenster schaut. In der Nacht ist der Garten schön.
Wie soll’s schon gehen, jedem, wie er’s verdient, und: Unkraut, nicht wahr; er flüchtet sich in Worte, in die kein Kummer je gepaßt hat. Seinem Sohn, der ihn wöchentlich besucht, scheint er gefaßt, ja, heiter.
Nur das Stückchen noch. Ist nicht mehr weit. Sagt sie; und sie muß es wissen.
 
Beitrag zum Projekt *.txt (16: Distanz).
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Tanz

    Ist hier noch frei?
    Klar, wieso nicht?
    Du wartest sicher auf jemanden …?
    Meine Beste hat mich versetzt; aber das hält mich nicht ab, rauszugehen. Und du?
    So ähnlich. Eine Freundin wollte vielleicht noch kommen.
    Ah, dann haben wir wohl beide Glück gehabt.
    Wenn du so lächelst, muß ich dir das glauben.
    Na, jetzt lächelst du endlich auch. Vorhin sahst du so ernst aus.
    Ist eine ernste Sache, jemandem wie dir näherzukommen …
    Oho, da sind wir uns also schon nähergekommen?
    Hoppla, das war ein Freudscher. Da war der Wunsch —
    Das war ein Witz. Komm, gehen wir. Wenn wir uns schon näherkommen, will ich dich wenigstens in Ruhe kennenlernen.
    Noch ein Witz?
    Voller Ernst.
***
    Wann bist du zurück?
    Warte nicht auf mich, kann später werden.
    Wer sagt, daß ich auf dich warte!
    Ich meine ja nur. Vielleicht schaffe ich die letzte Bahn nicht, ich hab Bekannte da, mach dir keine Sorgen.
    Sorgen –! Ich sehe dich nur noch zwischen Tür und Angel, wohnst du wirklich hier?
    Jetzt fang doch nicht schon wieder an.
    Du weichst mir aus …
    Wir reden drüber, ja? Ich muß los. Warte nicht auf mich. Wird sicher spät.
***
    Ist hier noch frei?
    Ja, sicher. Bitteschön.

 
Beitrag zum Projekt *.txt (15: Tanz).
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Diese Leute

Diese Leute denken nicht von zwölf bis Mittag, aber die Weisheit mit Löffeln gefressen oder was, sitzen da auf ihrem Platz in der Welt und denken, oder nein, denken nicht, müssen die nicht, wissen, daß das so ist und bleibt und von Ewigkeit zu Ewigkeit und so weiter, sitzen im gemachten Nest aus Meinungen und Maßstäben, alles schön klar: so ist’s richtig, so ist’s falsch, richtig: Sonderangebote, Auto waschen, Rasen mit Petunienrand, falsch: Schwule, Asylrecht, Loch in der Hecke, sitzen zu Gericht über den Rest der Welt, die Nachbarn, die Familie, die Politiker, die Ausländer, die da oben und die Assos, sitzen zu Gericht, wissen alles besser: die müssen doch nur, da sollte mal einer drein-, schlagen, überhaupt: Schläge, immer probates Mittel, haben noch nie geschadet, und da sitzen sie dann, kleinkreditwürdig, sparfuchsig, selbstgerecht, diese Leute, die da sitzen und keinem gönnen, keinen gelten lassen, diese Leute, die nur sehen, was sie sehen wollen, und gleich dabei mit dem Urteil, diese Leute habe ich ja noch nie verstanden.
Beitrag zum Projekt *.txt (13: verstehen).
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Selbstbildnis im Wasserspiegel eines Putzeimers

Da, ein Auge, da der Mund; der Schaum dazwischen,
der noch die Nase und die Stirn verdeckt,
steht knisternd, seifenbläschengleich. Ich gehe wischen,
weil’s sein muß; weil man ja nicht gerne ganz verdreckt.
Das klare Wasser mit dem hellen Schaum darüber
wird, je öfter ich den Lappen in es tauch’,
erst gräulich, grau dann, matter, trüb und trüber,
und mein Gesicht in seinem Spiegel wird es auch.
Die Tage gehen, und es bleibt der Schmutz. Die Lieder,
die ich beim Putzen sang, zerstäuben wie die Zeit;
ich sang sie nur, um mich zu motivieren.
Im Wassereimer steht mein Bild in Schlieren.
Die Frische ist dahin. Ach, die Vergänglichkeit:
der Schaum zerfiel. Und morgen alles, alles wieder.
 
Beitrag zum Projekt *.txt (11: Schwermut) und zugleich ein Haushaltssonett.
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Bei Licht betrachtet

Sie sitzen sich gegenüber, der Kellner hat Getränke gebracht, Zeit fürs nähere Kennenlernen. Nach einigen Tagen des Wer-sind-Sie, Was-machst-du, des Geplänkels in Wort und Bild das erste Date – nicht immer kommt es so weit; und was dann passiert … Die Anspannung ist greifbar.
Er mustert sie. Die Fotos waren akkurat, sie ist attraktiv für ihr Alter, nicht ganz sein Typ. Er macht eine witzige Bemerkung. Sie schlägt die Augen nieder, wenn sie lacht. Sein Blick rutscht tiefer: die Bluse spannt über ihren Brüsten — Sie legt die Hand an den Kragen, ups; er macht eine witzige Bemerkung. Das Essen kommt.
Ganz ausgezeichnet. Sie lächelt. Er ist höflich; angenehme Stimme. In ihren Ausschnitt hat er gestarrt; das passiert. Er wirkt kultiviert und hat die Welt gesehen. Sie fragt sich, wieso er über eine solche Plattform sucht; sie selbst hat dem Drängen ihrer Freundinnen nachgegeben (was soll schon schiefgehen). Sie setzt sich aufrechter und überlegt, ob es auffällt, wenn sie die Schuhe abstreift.
Er achtet darauf, in ihr Gesicht zu schauen. Das Gespräch kommt in Gang; er macht ihr Komplimente. Langsam wird sie lockerer, lacht hell. Es läuft. Vielleicht wird es wirklich noch etwas —
Oh, dein Handy.
Das Gerät liegt neben seinem Teller. Auf dem Display leuchtet das Porträt einer Frau, wohl am Strand aufgenommen, im Abendlicht; sie lacht den Fotografen kokett an, während sie das Bikinioberteil in ihrem Nacken bindet. Da hat er das Telefon auch schon in der Hand.
Entschuldige mich drei Minuten, ich muß das hier —
Er nickt ihr zu und tritt hinaus auf die Terrasse. Im Schein der Außenbeleuchtung sieht sie ihn auf und ab gehen, nach vorn geneigt, als hinge das Telefon an einer schweren Kette, die Schultern starr; und als das Licht sein Gesicht streift, wird ihr kalt. Das ist ein Zerrbild des Gesichts, das sie eben noch im Kerzenschein betrachtet hat, eine Maske aus Wut und Verachtung. Oder vielleicht eben keine Maske.
Als er wieder hereinkommt, waren es wirklich nur drei Minuten. Durchgeknallte Ziege, murmelt er, und entschuldigend: Meine Ex.
Sie sitzt auf der Stuhlkante, die Schuhe, in die sie wieder geschlüpft ist, sind unbequem. Den Espresso ein andermal, vielleicht, ich muß los, hat mich gefreut, getrennt, bitte, alles Gute dir …
Einen Grappa trinkt er noch, allein. Ziegen, knurrt er. Eine wie die andere.
 
Beitrag zum Projekt *.txt (9: nackt). Nachgereicht.
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Eine gewöhnliche Geschichte, von eins bis Ende

Nummer eins war ein halbes Jahr jünger als sie und übte mit ihr Kino-Küsse hinterm Stall, weil sie ihn zwang. Ganz Bogart und Bergman: sie wie ein widerborstiger Mantel über seinen Arm gekippt, er den Mund weit offen auf dem ihren. Nachher spuckten sie beide eine Weile fremden Speichel. Wahrscheinlich hätten’s die Geigen gebracht; die hatten bei ihnen natürlich gefehlt.
Vor Nummer zwei hatten sie ihre Eltern immer gewarnt. Im Dunkeln war sie aus dem Fenster geklettert, und er tanzte mit ihr, in Ausgehuniform. Rock’n’Roll, deutsches Bier und britische Küsse. Auf dem Heimweg glaubte sie, kurz, I love you heiße Zukunft. Er entjungferte sie und ruinierte ihr das Kleid; das versteckte sie vorm nächsten Osterfeuer im Holz- und Reisighaufen.
Als Lehrling in der Kreisstadt war sie auf Nummer drei, so dachte sie, vorbereitet; doch wie so einer ihr achtlos das Herz zerdrücken konnte, das hatte sie nicht gewußt. Zu Nummer vier sagte sie darum: ich weiß doch, was du willst, und zerdrückte ihm das seine; das tat erst ihm weh und dann, viel später, ihr.
Bei Nummer fünf schaute sie nicht genau. Heiraten mußten sie trotzdem, und zu ihren Eltern ziehen. Er kam immer seltener nachhaus, während sie dort nach und nach versteinte, aber das Kind, zum Glück nur dieses eine, das hatte einen ehrlichen Namen im Dorf. Dann kam Nummer sechs. Nicht gerade Bogart, und Beine hatte er nur anderthalb, doch im Café im Städtchen wuchs und gedieh ihr Herz, und sie erblühte unter Zärtlichkeit. Kaum war sie endlich, endlich frei für ihn, hat ihn der Krieg doch noch geholt: ein wandernder Granatsplitter, hieß es. Nach dem Begräbnis zog sie mit dem Kind weit fort.
Der Rest war Rackerei und die Tochter erziehen, bis die ihr Glück in die eigenen Hände nehmen konnte. Zweidreimal im Jahr erfuhr sie am Telefon von diesem fremden Leben. Dann Rackerei, und abends vor dem Fernseher alt werden. Dann nur noch vor dem Fernseher alt werden. Von der Welt, von der sie nicht viel hielt, hielt sie sich fern. So hätte sie fast Nummer sieben übersehen, der ihr den Einkauf trug und die Zeitung vor die Türe legte. Sie war erstaunt, wie alt die Menschenkörper geworden waren in den letzten vierzig Jahren, und doch waren es ganz brauchbare Leiber. Ein paar Jahre lächelten sie über die Glückszahl sieben, dann starb er friedlich. Sie träumte Nacht für Nacht von ihm.
Seit einem Monat stand sie nun nicht mehr auf. Die Tochter war gekommen, den ganzen Weg aus Afrika, mit Fotos von den Kindern und den niedlichen Enkeln; das alles ging sie nicht mehr sehr viel an. Sie hörte Nummer acht auf leisen Füßen im Zimmer auf und ab gehn. Wie Humphrey Bogart sah er aus, ein schöner Mann voll Schmerz und voll Geheimnis. Nun müßte sie nicht mehr lange warten, bis sie einsetzten, die Geigen.
 
Beitrag zum Projekt *.txt (8: acht). Nachgereicht.
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Wortgewänder

Oh, all die fließend-schönen Wortgewänder! Wohlgesetzte Worte, Widerworte, Wunderworte, Worte mit Knall und Hall und mit Raum für loses Spiel; spröde und schroff, sanft und präzise, funkelnd, schwarz. Mal umschmeichelt mich eine einzelne Wendung, manchmal hüllt es mich mächtig ein; manche packen mich umstandslos am Kragen. Hier glaube ich etwas wiederzuerkennen, dort scheint mir alles neu und nie gesehen. Schönes, Schmerzhaftes, schmerzhaft Schönes.
Oh, danach greifen!
Unter der Wortgewandung muß jemand sein, vielleicht mehr als einer, womöglich: eine Seele. Texte formen, verhüllen, lassen durchscheinen: Menschen, die ihre Sprache beherrschen oder von ihr beherrscht werden. Menschen, die eine Wahrheit suchen oder sie erfinden. Die die Welt verstehen oder verzweifeln an ihr.
Durchschaute ich diese Gewebe, ich fände: harmlos Zufriedene, Finstere, Kluge, Zweifelnde, Bedürftige, Liebenswerte, Selbstbezogene, Großmütige oder gekonnte Mischungen aus all dem. Vielleicht: den Schatten über meinen Tagen. Die große Liebe. Rühr mich nicht an. Nimm mich in den Arm. Völlig anders als gedacht. Oh, wie konntest du nur. Am Ende gar: Menschen, deren Worten ich auf halbem Weg entgegenkomme, und auf der Straße ginge ich ohne Blick an ihnen vorbei.
Da stehen sie nun, schimmernde Gestalten im Lichte meiner Gedanken. So aus der Ferne springt ihre Schönheit ins Auge; der Zauber aber liegt im Ungewissen, in den Schatten.
 
Beitrag zum Projekt *.txt (7: Fassade); entstanden auch mit Gedanken an J.
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