Dorfgeheimnisse

In der Küche der M.s mit dem schönen Holzboden und den Fenstern zur Obstwiese stand jahrein, jahraus Wolfi und trocknete das Geschirr ab. Wolfi hatte rosige Wangen, Augen und Nase wie Knöpfe, dünnes braun-graues Haar, war gebeugt und etwa so groß wie wir Grundschulkinder. Er trug Jägergrün mit Hosenträgern, darüber eine Kittelschürze, und immerzu schimpfte er vor sich hin. Schlechte Laune schüchterte mich ein – das Schimpfen war mir viel unheimlicher als das Wort mongoloid, mit dem man ihn mit gesenkter Stimme bezeichnete.

Meistens schimpfte er, aber es gab Momente, da legte sich sein Gesicht in völig neue Falten, die Augenbrauen schossen in die Höhe, die Wangen wurden einen Ton rosiger, da war er ganz und gar Strahlen: wenn er gelobt wurde, wenn die Rede von Weihnachten war oder von der CDU, wenn jemand am Kaffeetisch eine seiner Geburtstagskarten vorlas, deren Rückseiten er sauber mit Zeilen um Zeilen aus parallelen Strichlein bedeckt hatte.

Manchmal kam er zu mir, betrachtete mich andächtig und streichelte mir vorsichtig die Wange oder das Haar; dabei sagte er “Ei, ei, Mädsche!”, und ich wußte nie, wie ich reagieren sollte. Niels aus der Nachbarschaft machte es Spaß, Wolfi nachzuäffen, bis der sich vor Wut verschluckte und ihm die Tränen liefen; dann mußte jemand aus der Familie schlichten kommen, denn wehren konnte Wolfi sich nicht.

Wolfi war der ältere Bruder von Frau M. Er hatte im Haus ein Zimmer für sich, und wenn wir Kinder wußten, daß er in der Küche beschäftigt war, gingen wir seinen Altar anschauen: da waren Fotos vom Papst und von Franz-Josef Strauß aufgestellt, dazu ein großes Gemälde des Heiligen Hubertus, kniend vor weißem Hirsch mit dem Kreuz im Geweih. Ein kleines Jagdhorn, Kerzen und immer frische Blumen rundeten das Ganze ab. Hier zelebrierte, wie wir auch schon bespitzelt hatten, Wolfi seine täglichen Messen: Angetan mit einem Priestergewand samt Stola summte er Choräle und murmelte in höchst katholischem Tonfall Silbenketten herunter, einen Rosenkranz in der Hand.

Wo er das gelernt haben mochte? In die Kirche ging Wolfi nämlich nie. Und die M.s waren evangelisch und Sozialdemokraten. Fragen stellte ich mir erst viel, viel später. Daß meine Eltern vielleicht nicht seine Herzkrankheit gemeint hatten, als sie bemerkten, Wolfis Alter sei für einen Mongoloiden erstaunlich: Er mußte Ende der Dreißiger geboren sein. Als Kind sah ich nur, wie anders er war und wie wenig das ausmachte; das Haus der M.s jedenfalls wäre nicht dasselbe gewesen ohne ihn.

Grün tanken (minus Herrn G.)

Welten wechseln: aus den eigenen vier Wänden (es bleiben, wie oft man auch zählt, vier) in den Zug, mit Stoffmaske und reichlich Platz zum nächsten Passagier, die Hand stets an der Desinfektionsflasche, hinaus in die Weite. Vertrautes Gebiet, unvertrauter Himmel (er ist bewölkt, das kenne ich so kaum noch) und so viel Luft um mich, daß ich fast nicht weiß, wohin sie atmen.

rheinblick
Panorama in Morgengrau.

Gehen geht aber noch. Ich mache ein bißchen langsamer als sonst bergauf, aber es sprintet ja auch kein Herr G. vorweg, den ich nicht verlieren will. So habe ich aber auch keinen, dem ich sagen kann: oh, die Äpfel sind fast schon durch und die Kirschen ganz, und ist das da hinten etwa Flieder? Es ist welcher, und daraus tönt es verdächtig nach Nachtigall. Huch, ein Kuckuck! Zwei sogar. Und die Feldlerche, die die Wolken am Himmel hält – fast wäre ich nicht vom Fleck gekommen vor Schauen und Lauschen. Dabei ist diese Welt ganz menschenleer; nicht mal mit Gassigehern muß ich sie teilen.

Auf in den Wald! Der ist hellgrün und voller Veilchen. Die vergangene Trockenheit hat brennholzgesäumte Lichtungen hinterlassen und sehr traurigen Nadelwald; die aktuelle hat den Weg zu Sand gedörrt, der mir die Schuhe weiß pudert. Um die Fichten ist es nicht schade, hat Herr G. mal gesagt, aber wenn die Buchen weg sind, das wird ein Schlag; und: in Süddeutschland forsten sie jetzt mit Zedern auf. Ich versuche mir den Wanderweg zwischen Steineichen und Macchia vorzustellen; es gelingt mir nicht.

Ich sehe Löcher im Boden, da weiß ich nicht, Wildschwein oder Bagger? Wird aber Wildschwein sein; für Beräderte sind die Stellen unzugänglich. Ich sehe boxende Eichhörnchen und Spechtlöcher und Akelei, und irgendwann sind die Wolken des Morgens aufgelöst, es ist, als hätte im Wald einer das Licht angeknipst; da sehe ich eine ganze Weile nichts als Grün. An Grün kann man sich schadlos betrinken.

Herr G. fehlt doch beträchtlich. Ich kann nun keinen fragen, ob Blaumeisen freihändig über den Rhein fliegen, oder ob sie eine Brücke brauchen? Ob ein Wildschwein Purzelbaum kann (bei der Statik)? Wann der Ausnahmezustand wohl wieder Wandertreffen zuläßt? Auch in dem Buch, das er mir zugeschickt hat und in dem ich auf einem besonnten Baumstamm lese, steht davon nichts.

Als der Weg sich zum Bahnhof wendet, bin ich quengelig. Jetzt schon? Immerhin, es war Grün, nach Wochen und Wochen. Aber so wenig! Muß ich wirklich? – Es nützt nichts; ist sowieso keiner da zum Beschweren. Außerdem, aber das behalte ich für mich, war die Runde anstrengender als gewohnt. Man kommt so schnell aus der Übung.

Ich wünsche uns allen Besserung. Und Gutes.

Noch ein letzter Blick übers Grün.

 

 

Biotop

Logo erzähl mir eine Geschichte Ich hätte ihn wegwerfen sollen. Der Weihnachtsstern war als Mitbringsel nett gemeint, aber schon am zweiten Tag, den er sich prachtvoll auf der Fensterbank wölbte, bemerkte ich winzige schwarze Fluginsekten überall in der Wohnung. Sie zielten auf schwarze Flächen, tanzten über meiner Kaffeetasse auf und ab und gerieten mir gelegentlich in die Augen. Wenn ich den Weihnachtsstern goß, erhob sich eine Wolke von ihnen aus dem Übertopf: Trauermücken. Gleich nach den Feiertagen würde ich Gelbstecker kaufen, klebrige Kunststoffstücke, an denen Insekten hängenbleiben.

Doch dann, im Zwielicht eines frühen Januarabends, meinte ich aus dem Augenwinkel eine rasche Bewegung in der Luft zu bemerken. Kein Trauermückenzucken, sondern etwas größeres. Tage später wußte ich, daß ich mir das nicht eingebildet hatte, als ich auf dem Gelbstecker etwas fand, das aussah wie sehr kleine Federn. Und tatsächlich war am frühen Morgen aus dem Wohnzimmer ein winziges Zwitschern zu hören, ein Lied aus zarten Pfiffen. Es dauerte ein paar weitere Tage, bis ich das Nest entdeckte: gut verborgen in der Krone des Weihnachtssterns, aus Pflanzenfasern und ein bißchen Staub zusammengefügt, klein wie ein Fingerhut, darin vier Eier. Den Gelbstecker warf ich weg.

Bald lagen bläuliche Eierschalen unter der Fensterbank am Boden, und von da an gaben die Vögel, tarnfarben und stubenfliegengroß, die Geheimniskrämerei auf. Halsbrecherisch jagten sie um die Lichtquellen in der Wohnung herum. Die Trauermückendichte nahm merklich ab; ich legte ein Blatt Papier unter die Fensterbank.

Eines Morgens lag ein totes Jungvögelchen darauf, und ich machte mir Sorgen. Tatsächlich: die Alten kamen nicht nach mit der Jagd, so hungrig war die Brut. Ich ging und kaufte eine weitere Zimmerpflanze; nach wenigen Tagen schien das Nahrungsangebot wieder zu stimmen. Später hatte ich große Freude an den Flugstunden, die vom Rand der Stehlampe aus stattfanden.

So ging das nun: die Vögel bauten Nester, brüteten und wurden flügge; ich sorgte dafür, daß die Nahrung nicht knapp wurde, indem ich neue Topfblumen anschaffte. Es war eine schöne, gleichmäßig fließende Zeit, in der jeder tat, was getan werden mußte.

Im Sommer dann fand ich auf dem untersten Brett im Bücherregal ein Häuflein Federn und blutiger Knöchelchen. Den Jäger selbst bekam ich nie wirklich zu Gesicht; nur hin und wieder die Reste seiner Mahlzeiten und zierliche Tatzenabdrücke im Staub an selten gewischten Stellen. Eine Zeitlang wurden die Vögel weniger und die Mücken mehr, und ich überlegte, ob ich etwas unternehmen müßte, aber bald hatte sich das Ganze eingependelt. Nachts trappelt und faucht es manchmal zwischen den Blumentöpfen, tagsüber sind die Neuankömmlinge sehr scheu. Ihre Höhle scheint sich unter der Anrichte zu befinden; ich habe noch nicht nachgeforscht.

Es gibt jetzt viel, um das man sich kümmern, das man putzen und wegmachen muß: Blätter und Zweige, Hinterlassenschaften der Vögel, Raubtierlosung. Dafür erfreuen mich Vogellieder und Flugakrobatik und die geheimnisvollen Spuren der Jäger. Auch unter der Anrichte scheint es Nachwuchs zu geben. Ich kann das hören: Gequieke und Herumgepurzel.

Heute früh nun, als ich trockene Blätter von den Pflanzen zupfte, entdeckte ich im großen Topf der Birkenfeige eine Reihe streichholzlanger Zweige, nebeneinander in die Erde gesteckt und mit Faserstricken verbunden. Sogar ein Durchlaß mit einem geflochtenen Tor ist darin, sorgfältig verschlossen mit einem winzigen, aber tüchtigen Knoten.

Seither sitze ich auf dem Sofa und weiß nicht so recht.

Erzähl mir eine Geschichte!

Das Kind war etwa zwei Jahre alt. Wo andere Kinder ein Stofftier haben, schleppte dieses wechselnde Bücher mit sich herum. Wann immer es brenzlig wurde – müde, Streß, blöder Tag –, da jammerte es: Mein Buch, mein Buch! Nur eine Geschichte aus dem Buch machte alles wieder gut.

Einmal waren wir auf dem Spielplatz, da trat das Unglück ein: das Kind war hingefallen, die Mutter hatte es abgestaubt, auf eine Bank gesetzt und wollte nun das Buch aus der Tasche ziehen, da war es nicht da. Vergessen. Kein Buch. Die Tränen begannen zu fließen, der Jammer türmte sich. Ich laufe, sagte die Mutter, schnell eins kaufen, paßt du solange auf?, und schon stürzte sie davon.

Ich setzte mich neben das haltlos weinende Kind auf die Bank und begann, in meinem Rucksack zu kramen. Ah, da ist es ja. Als ich mit großer Sorgfalt und beiden Händen – nichts hervorholte, wurde das Schluchzen leiser. Hier ist mein unsichtbares Buch. Komm, ich lese dir eine Geschichte vor.

Ich blätterte, guckte ins Inhaltsverzeichnis und entschied mich für eine Geschichte. Das Kind folgte fasziniert meinem Finger, hörte sich die Geschichte an, betrachtete die Illustrationen, und als ich das Buch zuklappte und wieder im Rucksack verstaute, waren die Tränen vergessen. Oder, fragte ich, soll ich es dir schenken?

Da grinste das Kind ein kleines bißchen: Brauchst du nicht. Ich habe zuhause ganz genau so eins.

(Die Mutter kam kurz darauf wieder mit einem Notkauf. Stellte sich heraus, auch dieses Buch hatte das Kind schon im Regal stehen.)

 

Ob die Tage uns herumscheuchen oder langweilen, ob sie voller Furcht und Ungewißheit sind oder einfach nur öde – es geht nichts über eine gute Geschichte. Sei es eine vertraute, die wie eine Decke wärmt, oder eine unerhörte, eine Reise ins Ganzwoanders. Grundlegend ändern kann sie ja meist nichts, aber sie kann uns ein paar Minuten oder auch Stunden davontragen.

Sollten wir uns nicht Geschichten erzählen?

Logo erzähl mir eine Geschichte
Falls mir wer eine Geschichte erzählen mag: hier ist ein Bildchen zum Dranhängen.

 

Zum neuen Jahr: Pokal mit F

Das wichtigste zuerst: Ein gutes neues Jahr allen Leserinnen und Lesern!
Jahr gibt’s für alle, Pokal nur einen. Daher habe ich mich nach dem letzten Lebkuchen der Saison und zwei Kaffee der Jurytätigkeit gewidmet und war von den Einträgen höchst entzückt. Herzlichen Dank allen, die mitgemacht haben!
Von Liebesdrama über Verkehrschaos bis zu Umweltkatastrophe war alles dabei; dazu noch eine Redensartüberkreuzung und die hübsche Vorstellung, die Stadtvögel könnten versuchen, sich im Straßenbelag zu verewigen (nun ja, bei der Aufmerksamkeitsspanne …).
Den Vogel abgeschossen hat dann aber mit dem letzten Eintrag Frau liuea:

Tango fandango di Paloma fantoma

HAHAHA! Und dann auch noch: Fünf Wörter, zwei Reime – Chapeau!

Zum nächsten Freitagstexter sehen wir uns dann wohl auf Antville wieder. Ich freue mich!

Zum Meer

Bei Geschichten und Meer hingefunden; Abzweigung einer Blogparade zu Europa und das Meer:

Rinnsale streben in Bäche, Bäche in Flüsse, Flüsse in Ströme. Ich könnte einem beliebigen Wasserlauf folgen und käme früher oder später ans Meer. Das hat mir immer schon gefallen, das Meer als Ziel. Klare Farben, klare Verhältnisse: unten Wasser, oben Himmel, mit denkwürdigen Ausnahmen.

Stunden schaue ich dem Licht zu, den Wolken und den Farben. Wer am Meer steht, steht vor der Frage: Und nun? Was gibt es noch Fremderes, und wie komme ich da hin? Nirgends ist Wetter schöner und nirgends gefährlicher als hier; Sonne, Wind und Salz zermürben, was sich nicht immerzu erneuern kann. Am Meer ist alles klein, nur Himmel und Wasser nicht. Ich Zweibeiner und Lungenatmer bin ihm ganz und gar egal, es hat ja nicht mal Augen, um mich zu betrachten. Die Liebe zum Meer ist eine einseitige.

Das Meer trägt, ernährt, bezaubert uns. Wir hielten es einst für unendlich und noch bis vor kurzem für unerschöpflich und unverwundbar; das alles ist es, wissen wir inzwischen, nicht. Es hat nicht Fisch für alle, schenkt sein Öl nicht her, schluckt nicht jeden Müll. Es ist bereist und besungen, vermessen, beschrieben und kartiert. Grenzen hingegen sind dem Meer gleich. Menschen haben auch auf See Hoheitsgebiete abgesteckt, und Menschen scheitern an ihnen. Dem Wasser selbst sieht man das nicht an; nur die Toten, die legt es uns an die Strände.

Von der Wasserfläche können wir es lesen: Alles kommt und geht, nichts hat Bestand und nur weniges Gewicht, was wir nicht in uns tragen. Es gibt keine Barmherzigkeit in der Welt als die kleine, alltägliche, die wir zu verschenken haben, und das können wir, weil wir nicht gleichgültig, nicht ewig, sondern weil wir Menschen sind.

 

Alle Flüsse fließen ins Meer. Alles Wasser fließt hinab, hinab bis Normalnull, bis es irgendeins der sieben Weltmeere erreicht; aus Menschensicht strömt es immerzu fort von der Mitte, wie ein umgekehrter Blutkreislauf, dessen Motor und Bestimmung nicht im Zentrum des Ganzen liegt, sondern es rings umgibt.

 

 

 

Winterknochen

Unter blauem Himmel ist der Weg aus dem Tal nur halb so steil, der Wind nur halb so scharf, wenn er Sonnenlicht vor sich herbläst. Wie schön: aus dem kahlen Wald treten, und die Landschaft fächert sich in die Ferne, golden und grün. Die Wolken liefern sich Freundschaftsrennen und tuschen dabei eilige Flecken auf die Hügel; Hasel und Weiden blühen, staubgelbe Abzeichen an den schwarzen Waldsäumen; Meisenrufe schlagen zehn Grad drauf auf die gefühlte Temperatur. Hier aber und da, in Feldgräben, hinter schrägen Schollen und Grasbüscheln aus dem letzten Jahr, hat sich der Schnee verschanzt.

Winter’s bones, weiß Frau Amsel ein Wort dafür: was übrig bleibt, wenn dem Winter der Atem ausgeht und das Fleisch wegschmilzt; was noch lange liegt, wenn die Schlacht längst geschlagen ist und langsam Gras über die Sache wächst. Knochen aus Schnee, snow-bones, schmutzigweiß und irgendwann nicht mehr zu sehen, aber nie, argwöhnt man, ganz und gar vergangen unterm Grün.

 

 

(Immer noch keine Fotos. Aber ich arbeite dran.)

 

#Schattenklänge: Was sich gehört

Alles im Dorf hatte seine feste Ordnung, und umso fester, je mehr ihr die Grundlage verloren ging. Die Zeiten änderten sich: Nicht mehr jedes Bauernkind wurde Bauer; Äcker und Weinberge wurden verkauft, Neubaugebiete entstanden. Es zogen Fremde zu, sogar Evangelische. Mit denen hatte man nichts zu tun; innendrin im Dorf galten die alten Regeln noch. Da scharten sich die Gassen um die Kirche, samstags wurde gekehrt, und jeder wußte, wer wann zur Messe ging.

In diesem winzigen Kosmos zwischen Weinbergen – Kirche, Schule, Dorfplatz, Friedhof – gab es eine Gasse, in der man besser nicht wohnte, und da wohnten für kurze Zeit die E.s in einem Häuschen auf gammeligen Fundamenten, das aussah, als sei es im Kopfsteinpflaster versunken; aus der Haustür drangen Kindergeschrei und fremdartige Kochgerüche: die E.s waren Türken, bis dato die ersten und einzigen Ausländer im Ort, ein neues Haus im Neubaugebiet konnten die sich nicht leisten.

Sencan kam in meine Klasse. Sie muß älter gewesen sein, sie überragte uns alle um einen Kopf, aber ihr Deutsch war nicht gut, und so sollte sie ins dritte Schuljahr. Ich erinnere mich am besten an ihr Lächeln, das ihr Gesicht ganz erhellte, wenn sie mit Händen und Füßen erzählte.

Es nützte ihr nichts. Wir Kinder hatten nichts gegen sie, zunächst, aber die Art, wie die Lehrerin sie vorstellte, machte klar, daß hier etwas nicht stimmte. Bald war ein Teil der Klasse gegen sie; es dauerte eine Weile, bis sie das merkte. Es stellte sich heraus, daß sie genauso schnell weinte, wie sie lachte, und es gab viel, womit man sie zum Weinen bringen konnte: an ihren langen Haaren reißen, ihre abgetragenen Kleider verspotten, ihr Deutsch nachäffen.

Ich machte dabei nicht mit; soviel kann ich mir zugute halten. Ich mochte ihr Lächeln, und ich hatte das Gefühl, daß sie Schutz brauchte, aber so stark war ich nicht. Immerhin, ich unterhielt mich mit ihr (sie lernte schnell), und ich gehörte zu denen, denen sie beibrachte, daß ihr Name nicht “Senkan”, wie die Lehrerin sie hartnäckig nannte, sondern Sendschan ausgesprochen wird. Natürlich ging das nicht einfach so hin. Auch mir rief man “Türke!” hinterher, und wenn ich nicht ohnehin eher am Rand gestanden hätte, als Zugezogene und Evangelische, hätte mir das vermutlich mehr ausgemacht. Es dauerte sowieso nur ein paar Wochen.

Einmal kam Sencan mit Fieber in die Schule, da war sie zuhause ausgebüxt – aus dem Fenster geklettert, wie sie erklärte; sie hatte solche Sehnsucht gehabt. Einmal durfte sie im Unterricht erzählen, was das für wunderschöne rote Zeichnungen auf ihren Händen seien. Und einmal wurde sie aus dem Klassenzimmer geholt und kam nicht wieder, auch nicht am nächsten Tag und nicht am übernächsten, und ich habe nie erfahren, was aus ihr geworden ist.

Vergessen habe ich sie nicht. Nicht ihr Lächeln, nicht ihr lebhaftes Erzählen über alle Sprachgrenzen hinweg. Auch nicht vergessen ist der angewiderte Blick der Lehrerin, und wie sie vor sich hin murmelte: auch das noch; und nicht die schweigende Gruppe und die bösen Worte derer, die meistens ganz normale Kinder waren.

Aus dem krummen Haus in der dusteren Gasse war die Familie E. ausgezogen; bald wohnten da die T.s mit dem Sohn, der schon gesessen hatte; aber gottseidank, sagten die Leute im Ort, wenigstens Katholiken, Deutsche, wie es sich gehört.

 

Eine Geschichte zu SoSos Blogaktion.

 

 

Worte und Wege

Herr G. flucht. Nichts, gar nichts stimmt da! — Auf der Karte führt ein Weg aus dem Ort heraus, direkt am Schloß den Berg hoch; aber nun stehen wir am Schloß, und nix ist. Wir irren zwischen Häuserzeilen am Hang herum, stiefeln mehr als einmal über Privatgrund, und irgendwann finden wir ihn hinter einem geparkten Kleinwagen, den Weg; eine steile, brombeerverrankte Angelegenheit, der Schlamm knöcheltief. Zwischen zwei Schnaufern gebe ich zu bedenken, daß die Karte zwanzig Jahre alt ist. Aber es sind Wege!, schimpft Herr G., sowas gehört gepflegt!

Wenigstens mit dem Wetter haben wir Glück; die Wolken schleppen sich über die Hügel und regnen anderswo. Immer wieder bleibe ich stehen: Ooooh! Das wäre ein Foto; aber ich bin ja kameralos. Tja, sagt Herr G. im Weitergehen, und recht hat er. Die nicht gemachten Bilder vergesse ich viel zu schnell wieder, doch ein diffuses Bedauern bleibt. Zeit für einen Kamerakauf, beschließe ich.

Die Karte ist eigentlich sehr genau. Ein paarmal sehen wir an Kurven und Winkeln exakt, wo wir stehen, aber die Wege wurden verlegt. Herr G. ist erzürnt. Ein ganzes Stück gibt es schlicht nicht mehr, endet in einem Gebüsch, und wir müssen einen gewaltigen Umweg machen. (Später zeigt er mir auf den Satellitenkarten im Netz: sogar da ist es noch eingezeichnet!) Wald wurde gerodet, Felder eingezäunt, Siedlungen sind gewachsen. Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit.

Wie kamen wir eigentlich darauf, frage ich Herrn G. mitten im Gespräch, ich weiß noch, du hast was gesagt, das hat mich an das erinnert, was ich dir gerade erzählt habe, aber was war es? Fünf Minuten her, und schon verflogen! Eine Karte fürs Gespräch, das wäre was. Oder eben Bilder: die hübsche Geschichte über seinen Namen, die Herr G. mir erzählt hat, weiß ich noch, weil gleich daneben ein Schloß stand, mitten in den Feldern, eine tausend Jahre alte Wasserburg. (Kein Foto.)

Am Ende verlaufen wir uns noch mal, aber da ist es erstens schon egal, und zweitens erwischen wir aus Versehen einen Weg schnurstracks aus den Hügeln in die Ebene des Rheins. Gerade als wir den Wald verlassen, bricht die Sonne durch und bestrahlt die grünen Felder, Andernach im Tal und die Hügel dahinter, zum Greifen nah. Bezaubert erreichen wir den Ortsrand.

Unten ist die Rheinpromenade gesperrt; Hochwasser. Wir finden das häßlichste Café mit dem besten Kuchen seit langem, und ich, glücklich mit meinem Milchkaffee, bin mit allem versöhnt. Herr G. sagt nicht, daß ich leicht zu amüsieren sei; aber recht hätte er. Manchmal ist ein kurzes Gedächtnis nicht das Schlechteste.