Wie jetzt, “man erkennt nichts”?!
Die einzig normalen Menschen sind die, die man nicht besonders gut kennt.
Playmobilmännchen mit abbem Bein – nicht im Bild: gefunden auf dem Parkplatz einer orthopädischen Klinik. Also, ich fand das sehr lustig.
Man sieht es nicht so gut, aber unten, zwischen den roten Farbresten auf der Baumrinde, hängt eine Kreuzspinne, leider noch jung und daher vergleichsweise klein und kontrastarm in der Zeichnung (das andere Bild, auf dem das Kreuz kopsüber gewesen wäre, ist komplett unscharf geworden). Wenn man weiß, wie solche Sachen aussehen, erkennt man die Halterung für ein Kruzifix oben rechts (nicht mit Kreuzschlitz-, sondern mit Torx-Schraube befestigt), aber beides, Kreuz und Spinne, paßte halt nicht so recht erkennbar aufs Bild. Hätte ich, bei Licht betrachtet, auch bleiben lassen können, das Foto oder doch zumindest die Veröffentlichung, denn Witze, die man erklären muß, sind Zeitverschwendung; andererseits ist Bloggen Zeitverschwendung, Knipsen auch und tagsüber ziellos herumlaufen sowieso; insofern –
Den Weg kennen wir, eigentlich. Andersrum sind wir den schon gegangen; aber: kennst du den Weg in eine Richtung, kannst du dich in die andere trotzdem verlaufen. Im Café in St. Goar gibt’s Rosinenschnecken, nicht die Standardware aus den Kettenbäckereien, sondern ungenormte Herrlichkeiten. Solang sie noch können, sagt die Bäckerin, backen sie alles selbst, auch wenn der Staat die Kleinen anscheinend nicht will. Ach, Verordnungen und Auflagen? Das höre ich oft. Aber, sagt Herr G, wir wollen das, und die Bäckerin schaut kurz überrascht und lächelt dann.
Heute also alles andersrum. Den Panoramaweg hinaufschnaufen; umdrehen zur Aussicht. Auf der ersten Bank im Wald die Rosinenschnecken verzehren. Dann: links oder rechts? Wir sind über beide Strecken schon mal gekommen. Ah, sage ich, links war doch die winzige Hütte, in der uns der Hund beim Picknick besucht und eine begeisterte Runde gedreht hat, dabei mit dem wedelnden Schwanz gegen sämtliche Wände auf einmal trommelte – Das, unterbricht mich Herr G, war aber an der Mosel, und hat natürlich recht. Mein Wegegedächtnis kannste vergessen, jammere ich. Zeiten, Orte, alles geht durcheinander; woran ich mich erinnere, sind Ereignisse und die Geschichten, über die wir geredet haben, ganz losgelöst von Zeit und Raum. Und natürlich Bilder, Blickwinkel, Farben; was das wohl für eine Landkarte gäbe? Keine brauchbare, will mir scheinen. Andererseits wandere ich ja nicht zur Orientierung, sondern weil’s Spaß macht.
Das wird mit dem Alter nicht besser, sind Herr G und ich uns einig. Man hat so viel gesehen, hat schon Unmengen anderen Krempel im Kopf, und das Hirn legt irgendwann Ähnliches einfach zusammen, sortiert gnadenlos aus, nach möglicherweise biographisch begründeten Kriterien … – Sind wir eigentlich noch richtig? Die Jahreszeiten haben gewechselt, Waldstücke vom letzten Mal sind jetzt Aussichten; die Abkürzung da hat ein Forstfahrzeug frisch in den Abhang gefräst, und manchmal hat der Weg einfach gar nichts mit der Karte zu tun, aber: stimmt wohl, ja.
Wir finden dann doch über die Hügel, fast ohne Umweg. Raus aus dem Wald empfängt uns die Apokalypse: ein Mähdrescher, ein gewaltiges, brüllendes Insekt mit auskragenden Mandibeln, frißt sich in Kreisen durchs reife Getreide, da müssen wir dran vorbei. Seine Wolke aus zerspelzem Stroh nimmt uns Sicht und Atem, aber mitten in ihr kreisen drei, vier, sieben große Raubvögel und stoßen immer wieder auf ihre plötzlich schutzlose Beute nieder; keine Ahnung, wie man in dieser Staubwalze etwas sehen, geschweige denn manövrieren kann. Einmal beim Wenden kommt uns die Maschine (auf ihrem Panzer steht “Maus”) so nah, daß ich beiseite springen möchte. Über uns schwirrt ein Rätsel in der Luft, bleiche, fingerlange Ts mit Antennen. In dem Moment, in dem ich kapiere, daß das panische Heuschrecken sind, sagt Herr G: schau, da fliegt Angelbedarf. Genau so sieht es aus.
Der Maschinenlärm ist betäubend, und wir sind froh, als wir vorüber sind. Eine Gruppe Bauern steht fachsimpelnd etwas abseits um einen vergleichsweise zierlichen Traktor am Feldrand herum. In der Ferne auf der anderen Flußseite weht wie Rauch genau so eine Staubsäule über die Felder: Erntezeit überall. Ich mache keine Bilder; ich möchte nicht, daß meine Kamera Staub schluckt.
Später sitzen wir bei Kaffee und Zwetschgenstreusel in Oberwesel. So schönes Wetter, hören wir am Nebentisch; gar nicht so heiß wie die letzten Jahre. Begünstigter Landstrich: ein ganz normaler Sommer, bis jetzt. Nur der Rhein steht etwas hoch.
Beim Abschied fällt mir eben noch das Buch ein, das ich für Herrn G im Rucksack habe: da! eine Fuge, und ohne Bitterkeit: Der vergessliche Riese, ich hab es gern gelesen.
Die Kur wohnt am Stein, genauer gesagt: in Bad Münster am ~. Da hat sie vor ein paar hundert Jahren ein Plätzchen gefunden und sich gemütlich eingerichtet. Es gab Glanz- und Blütezeiten, der Ort hat sich komplett um die Kur arrangiert und ihr ein schönes Haus samt Park an der Nahe gebaut; dann wurden die Zeiten knauseriger, Besucher- und Geldströme wurden schmale Rinnsale, aber die Kur ist immer geblieben.
Hierher habe ich, wie alle Kinder aus der Gegend, meine ersten Schulausflüge gemacht und mir nie weiter was dabei gedacht. Heute, selbst im Kurgastalter, bin ich als Touristin hier mit SoSo und Irgendlink, besser geht es eigentlich nicht, denn Irgendlink ist auch ein Kind aus der Gegend, und SoSo war hier noch nie.
Orte der Kindheit aufzusuchen, ist eine ganz besondere Gymnastik. Man geht zugleich durch den Ort und durch das eigene Fotoalbum davon – die Bilder, die man bewahrt hat, stimmen oft genug nur mit Klimmzug und Spagat mit dem überein, was man vor sich sieht. Umso schöner, wenn da einer ist zum “Weißt du noch?” und “Gab es da nicht mal?” und “War das immer schon so?”. Aber das Sahnehäubchen: Einer Ortsfremden, für derlei Zauber empfänglich, die mit ganz frischen Augen in die Gegend schaut, beim Schauen zuzugucken und sie tatsächlich beeindruckt zu sehen, das macht Freude, die kaum größer wäre, könnte man sagen: “Toll, nicht? Hab ich alles selbst gemacht!”
Zu bestaunen gibt’s jedenfalls genug: Reste von Bäderarchitektur, überraschende Landschaften so eng beisammen, wie man das sonst eher von Inseln kennt, Sonntagsvergnügungen tief aus dem vergangenen Jahrhundert – und eben die Kur: Nimmt man auf einer der Bänke im schattigen Kurpark Platz, setzt sie sich höflich dazu und verwischt, was man eigentlich noch alles vorhatte; man vergißt, daß es Uhren und Kalender gibt, das Treiben um einen herum wird ein freundliches Bild zum Betrachten, Gedanken kommen und flattern davon wie hübsche Singvögel, und ein Stündchen oder zwei sind in Schönheit vergangen. (Und wer jetzt noch ein bißchen sitzen bleibt, findet nie mehr heim –)
Reisehinweise für Bad Münster am Stein:
* Wenn möglich, mit dem Zug kommen und ordentliche Schuhe tragen.
Der Ort ist winzig, jedes Auto macht ihn voller, und die schönsten Ecken erreicht man nur zu Fuß.
* Sitzkissen mitbringen.
So malerisch die Bänke stehen, so unbarmherzig sind sie zu den Knochen.
* Badesachen einstecken.
Man weiß ja nie.
* Dem Fährmann eine Postkarte abkaufen. (Mache ich nächstes Mal.)
Es sind seine eigenen Bilder! Eis am Stiel gibt es auch bei ihm, und Mini-Stadtführungen in den paar Minuten, die es fürs Übersetzen braucht.
Manchmal, wenn ich ein sehr altes Blog finde, schaue ich, was andere an dem Tag gemacht haben, der für mich dein letzter war. Da lese ich von genossenem Essen, gehörter Musik, Ärger oder Freude bei der Arbeit, Schwimmbad mit den Kindern, Bemerktem, Besprochenem, Normalem. Leben eben.
Davon wußte ich nichts an all den Tagen, die danach kamen, und doch war es da. Manchmal tröstet das.
Nicht das Gendern ärgert mich, mich ärgert unhandliche, schwerfällige, häßliche Schriftsprache, die verhindert, daß Text das tut, was er soll: Information übermitteln. Am liebsten klar und unmißverständlich, gern auch griffig und schön. Ob es sinnvoll ist, in Schriftstücken alle explizit zu erwähnen, die sich gemeint fühlen sollen, weiß ich nicht (man denke das mal zuende); ob das Gendern letztlich etwas ändert* an den Geschlechterverhältnissen, bezweifle ich. Aber: probieren wir’s aus. Papier ist bekanntlich geduldig.
Hier stelle ich mögliche Lösungen (abseits von typographischen Regelungen, Partizipial- oder Nebensatzkonstruktionen) zur Diskussion:
* (Schrift-)Sprachregelungen werden die Welt nur sehr begrenzt beeinflussen; letztlich bestimmt die erlebte und die vermittelte Welt, was wir uns vorstellen, wenn wir eine Bezeichnung hören. (Diese Prägung findet zunächst mal in den frühen Lebensphasen statt; aber zum Glück sind wir auch später noch lernfähig!) Kindertagesstätte, Altenpflege, Prostituierte: weiblich. Chefetage, Hooligans, Klerus: männlich. Das zu verändern ist eine Aufgabe für alle, und zwar über Generationen. Bilder, Filme, Fiktion, Reportagen können Prozesse in Gang setzen. Ansonsten gilt für die Sprache, was auch für die Gedanken gilt: die sind frei und machen am Ende, was sie wollen.
In Oberwesel starten wir, das ist ein ummauertes Städtchen am Rhein mit einer Bäckerei am Marktplatz, deren Mitnehmkaffee ich in meine Blechtasse schütte; großer Pluspunkt. Wie schön Oberwesel ist, merkt man eigentlich erst, wenn man nicht recht hinausfindet und zwischen Häuschen, Hinterhöfchen und Gärtchen irgendeinen Schnörkelpfad nach oben nimmt; dann ist der Ort auch schon vorbei, und man schaut erstaunt über den Stadtgraben zurück auf die Dächer. Weiter geht’s, hinauf in die Felder.
Über die Felder gelangt man schnurstracks zu Fuß in die umliegenden Dörfer, ein gemächliches Stündchen mit Lerchen, Fotopausen und gelegentlichem In-den-Acker-Hechten, denn hier oben gibt es keine Fuß-, sondern nur Schleichwege. Ein Auto paßt gerade so darauf. – Wir erwischen ein Dorf mit Laden und Kindergarten. Im Laden ersteht Herr G. Sonnenmilch für unter 20 Euro (soviel hätte sie in der Apotheke in der Stadt gekostet) und wird dann von zwei Kindergartenkindern über den Zaun hinweg beim Einschmieren bestaunt. (Es sind dieser Tage wirklich nur zwei Kinder in der Hofpause, pandemiebedingt, erklärt uns die Erzieherin.)
Und dann kommt Hunsrück. Herr G. und ich fallen in Wandertrab. Der Hunsrück ist vor allem Wald; in Touristik und Marketing: Räuberwald (hier hat der Schinderhannes Johannes Bückler sein Unwesen getrieben). Jeder Ort hat eine Schinderhannesschänke oder etwas in der Art; es gibt Schinderhanneshöhlen und einen Schinderhannesweg, einst Bahntrasse, jetzt steigungsarmer Fahrradweg. Wir queren die Autobahn, die sich dafür mit stundenlangem Dröhnen rächt, und einen Autohof mit Autobahnkapelle. Auf dem absurd weiten Parkplatz rastet ein Geschwader von Wohnmobilen in Eigenheimgröße; drumherum jagen sich Kinder.
Immer wieder stehen wir vor freien Flächen, die mal Wald waren. Es wird aufgeforstet, mit südlicheren Hölzern, aber das wird Jahrzehnte dauern. Windkraftanlagen winken über die Hügelkronen hinweg. Der Flugverkehr ist nicht, was er mal war, und wäre es nicht schön, wenn das so bliebe? So blau ist der Himmel überm Hunsrück nämlich auch nicht immer.
Irgendwann erreichen wir Emmelshausen, von wo ein Bähnchen wieder runterfährt zum Rhein, und auf der Fahrt erleben wir dann doch noch eine Sensation (kein Bild): In einem Tunnel macht der Zug eine Vollbremsung, der Zugführer steigt fuchtelnd aus, und aus dem Fenster sehen wir etwas Ungestaltes vom Bahndamm hopsen, einen grauen Gnom die Böschung hoch flüchten und sich unter einen Farn kauern: ein Uhuküken ist das, halbmetergroß und noch flaumig, das starrt aus Bernsteinaugen beleidigt auf den Zug, wie er langsam wieder anrollt. Der Zugführer kriegt Applaus. Das, sagt er, war knapp.
Ich habe noch nie ein Uhuküken in freier Wildbahn gesehen. Jetzt mache ich mir eine Sorge mehr. (Zu Recht, bestätigt Herr G.: 70% der Uhus überleben nicht das erste Jahr.)