
Wie jetzt, “man erkennt nichts”?!
Die einzig normalen Menschen sind die, die man nicht besonders gut kennt.
Man sieht es nicht so gut, aber unten, zwischen den roten Farbresten auf der Baumrinde, hängt eine Kreuzspinne, leider noch jung und daher vergleichsweise klein und kontrastarm in der Zeichnung (das andere Bild, auf dem das Kreuz kopsüber gewesen wäre, ist komplett unscharf geworden). Wenn man weiß, wie solche Sachen aussehen, erkennt man die Halterung für ein Kruzifix oben rechts (nicht mit Kreuzschlitz-, sondern mit Torx-Schraube befestigt), aber beides, Kreuz und Spinne, paßte halt nicht so recht erkennbar aufs Bild. Hätte ich, bei Licht betrachtet, auch bleiben lassen können, das Foto oder doch zumindest die Veröffentlichung, denn Witze, die man erklären muß, sind Zeitverschwendung; andererseits ist Bloggen Zeitverschwendung, Knipsen auch und tagsüber ziellos herumlaufen sowieso; insofern –
Die Mosel beherrscht die Kunst des spektakulären Umwegs. Der Moselsteig tut es ihr nach und schnörkelt sich schönstmöglich um den gewundenen Flußlauf. Nichts für Leute, die vom Fleck kommen wollen: ein und denselben Ort sieht man oft eine ganze Etappe lang aus verschiedensten Perspektiven. Genau richtig für Leute, die herrliche Ausblicke schätzen.
Und dann die Kamera vergessen, genauer: die Kamera mitgenommen, aber nicht die Speicherkarte. An einem Sonntag. An der Mosel. Kein Bild, nicht eines, von Bullay bis nach Ediger-Eller.
Kein Bild von dem Zitronenfalter, der mich den ganzen Weg zu begleiten scheint; an jeder besonnten Stelle blitzt er gelb auf und verschwindet eilig. Kein Bild vom Fluß, der im Vordergrund nach links fließt, weiter hinten nach rechts und noch ein Stückchen weiter im Bogen zurück, dreimal dasselbe grünglitzernde Wasser. Man kennt das natürlich, die Rebreihen, die sich direkt ins Wasser zu stürzen scheinen; man kennt die verschlissenen Burgen, die Fachwerkhäuser und die aus Moselschiefer mit weißen Fugen. Aber, ach, es ist schon ein Jammer.
Und dann doch wieder nicht, denn die Hände frei zu haben, ist schön. Manchmal auch nötig, denn zwei Füße reichen nicht immer, etwa auf dem Ziegenpfad vom Calmont hinab zum Bahnhof. “Todesangst” heißt der Abschnitt; so weit würde ich nicht gehen, aber die Winzer hier, die sollten sich besser anseilen bei der Arbeit.
Daher vielleicht auch der Katholizismus in der Gegend – man muß sich gut stellen mit den höheren Mächten –; Kirchen, Kapellchen, Kreuzwege überall. Vor allem Kreuzwege, Bildstationen in den Weinbergen oder am Waldrand, mit Passionsszenen aus allen Epochen und von unterschiedlicher Kunstfertigkeit.
Am Steilhang kommen die Gedanken auf abschüssige Wege. Die Abkürzungen zum Beispiel. Viel Platz ist nicht unter den Bildern, deshalb steht da eben: Jesus w. a. d. Kr. genagelt, und darüber ist zu sehen, wie ein Knecht dem mit dem Hammer die Nägel anreicht. Eine Station heißt: Jesus n. Absch. v. s. betr. Mutter, die kenne ich nicht. Betr.? Hm. Betroffen? Betreten? (Sicher nicht.) Beträchtlich? Betrogen? Betrunken (Weingegend)? Betröppelt (Rechtschreibung)? Ich komme nicht drauf, dann werde ich abgelenkt durch die zwölfte Station, deren Bild zweifelsfrei zu entnehmen ist, daß Jesus am Kreuz durch Enthauptung ums Leben kam. Erst sehr viel später fällt mir ein: Betrübt! Na klar. Derweil lassen die steilen Pfade den Wanderer mitbüßen, doch die Aussichtspunkte sind alle Mühen wert.
Am Abend, aus den Schuhen gestiegen, stutze ich: dunkle Flecken auf den Fliesen??, dann sehe ich, daß das meine Fußspuren sind, jeder Schritt ein blutiger Abdruck. Jadoch, die Strecke ist anspruchsvoll in jeder Hinsicht. Ich würde sie wieder gehen; vielleicht sogar mit Kamera.
Ich erinnere mich an zwei oder drei Alben mit Familienfotos, die nach Schwarzweißbildern rochen; manche hatten kunstvoll gewellte Ränder, an denen man mit dem Zeigefinger entlangfahren konnte. Besonders faszinierten mich die halbtransparenten Papiere zwischen den Albumseiten, die, bei vollständiger Kenntlichkeit der Bilder, alle Details verbargen; sie saugten sich an den Seiten fest und wollten mit Vorsicht abgehoben sein. Sie trugen ein geprägtes Spinnennetzmuster, in dem hier und da pralle Spinnen saßen.
Die Bilder des Liebsten wohnten in zwei Schuhschachteln; sie waren nicht sortiert, aber sie klemmten ungefähr da, wo sie chronologisch hingehörten. Manche waren in den Umschlägen aus dem Fotogeschäft gebündelt. Feste, Urlaube, Auftritte, Zivildienst, Studium, Ausland — alles hatte er, wie’s kam, dokumentiert und mit der freundlichen Achtlosigkeit, die ich liebte, in diesen Schachteln verwahrt.
Beides, die Alben mit den Familienfotos und die Schachteln mit den Bildern des Liebsten, gibt es nicht mehr …
Wo Wein gedeiht, da trödelt der Sommer am längsten: die Sonne fängt sich an den Hängen und taut den Rauhreif der Nacht zu Perlen auf den letzten Blüten, während hoch oben Kranichketten ziehen. Fernhin nach des Südens Wärme.
Herbstlichte Eichenwälder lassen die Sonnenstrahlen durch; Hemd und keine Jacke ist genug. Buntes Laub und Nebel und der Rhein unten im Tal — ich schaue und schaue.
So viel zu sehen: Pfützen auf dem Weg, auf deren Grund Blätter modern wie unter klarem Glas; blaue Käfer, unverdrossen Bein vor Bein setzend wie schimmernde Automaten; extravagant frisierte Pilze; Gedenkkreuze für Eheleuth, die schon dreihundert Jahre unter der Erde sind. Und das Ganze, das Große: der Fluß in weitem Bogen, Wolkengebirge, die sich in stürzenden Felshängen fortsetzen, und die Sonne, die im Untergehen Farbe über alles gießt.
Ich weiß nicht, soll ich lachen, soll ich weinen — immerzu beschwere ich mich, daß sich das Ergangene nicht abbilden läßt, und nun kann ich keine Bilder machen. Meine Kamera geht wieder anderer Wege als ich.
So muß ich — darf ich, was ich sehe, hinter den Augen speichern, mich anfüllen mit Bildern. Sattsehen: geht das?
Vermutlich ähnlich wenig wie: sattgehen.
Dieser Mai ist wie geschaffen für innere Konflikte: Als Betrachterin taumele ich in der frischen, grün und weiß explodierten Welt von einem »Ist das schön!« zum nächsten; der Anspruch an die Technik ist groß: oh, mach doch mal ein Foto davon, und dann, nach allerlei vertrackten Winkeln, Belichtungszeiten, ja, Ausschnitten und Tonwertspreizung, sagt die Erinnerung: So war das aber nicht.
Das Bild, das es nicht gibt, zeigt …
Ich brauche wirklich einen Fotoapparat. Ich habe mich jahrelang gedrückt, mich drauf verlassen, daß andere einen haben oder mir in Extremfällen mal einen ausgeliehen, aber es nützt alles nichts — wenn’s drauf ankommt, hat man keinen dabei. Mein Album der Bilder, die ich nicht gemacht habe, wiegt schwer.
Damals, als sich eine Autokarawane durch die Innenstadt schob, gleichmütig angeführt von einem Zirkuskamel, hätte sich das ein oder andere schöne Motiv ergeben. Und nie werde ich die beiden Firmenschilder “Reifen Schwarz” und “Reifen Seher”, aus verschiedenen Ecken der Republik, aber gleich gestaltet, nebeneinander stellen können.
Aber am allermeisten fuchst es mich, daß ich niemals werde beweisen können, daß ich 1999 in einer bayerischen Kleinstadt so einen weißen Lieferwagen gesehen habe mit der Aufschrift: Großhuber Lautsprecher und Beschallungstechnik seit 1933.
So glaubt mir das ja kein Mensch.