Fortschreitend mit Herrn G.

Den Weg kennen wir, eigentlich. Andersrum sind wir den schon gegangen; aber: kennst du den Weg in eine Richtung, kannst du dich in die andere trotzdem verlaufen. Im Café in St. Goar gibt’s Rosinenschnecken, nicht die Standardware aus den Kettenbäckereien, sondern ungenormte Herrlichkeiten. Solang sie noch können, sagt die Bäckerin, backen sie alles selbst, auch wenn der Staat die Kleinen anscheinend nicht will. Ach, Verordnungen und Auflagen? Das höre ich oft. Aber, sagt Herr G, wir wollen das, und die Bäckerin schaut kurz überrascht und lächelt dann.

Aussicht bei St. Goar über das Rheintal, abgeerntete Felder und Wald
Ganz neue Lichtverhältnisse.

Heute also alles andersrum. Den Panoramaweg hinaufschnaufen; umdrehen zur Aussicht. Auf der ersten Bank im Wald die Rosinenschnecken verzehren. Dann: links oder rechts? Wir sind über beide Strecken schon mal gekommen. Ah, sage ich, links war doch die winzige Hütte, in der uns der Hund beim Picknick besucht und eine begeisterte Runde gedreht hat, dabei mit dem wedelnden Schwanz gegen sämtliche Wände auf einmal trommelte – Das, unterbricht mich Herr G, war aber an der Mosel, und hat natürlich recht. Mein Wegegedächtnis kannste vergessen, jammere ich. Zeiten, Orte, alles geht durcheinander; woran ich mich erinnere, sind Ereignisse und die Geschichten, über die wir geredet haben, ganz losgelöst von Zeit und Raum. Und natürlich Bilder, Blickwinkel, Farben; was das wohl für eine Landkarte gäbe? Keine brauchbare, will mir scheinen. Andererseits wandere ich ja nicht zur Orientierung, sondern weil’s Spaß macht.

Schwarze Pilze im Moos
Der Wald ist diesen Sommer voller Pilze.

Das wird mit dem Alter nicht besser, sind Herr G und ich uns einig. Man hat so viel gesehen, hat schon Unmengen anderen Krempel im Kopf, und das Hirn legt irgendwann Ähnliches einfach zusammen, sortiert gnadenlos aus, nach möglicherweise biographisch begründeten Kriterien … – Sind wir eigentlich noch richtig? Die Jahreszeiten haben gewechselt, Waldstücke vom letzten Mal sind jetzt Aussichten; die Abkürzung da hat ein Forstfahrzeug frisch in den Abhang gefräst, und manchmal hat der Weg einfach gar nichts mit der Karte zu tun, aber: stimmt wohl, ja.

Buchenzweig im Gegenlicht
Licht!

Wir finden dann doch über die Hügel, fast ohne Umweg. Raus aus dem Wald empfängt uns die Apokalypse: ein Mähdrescher, ein gewaltiges, brüllendes Insekt mit auskragenden Mandibeln, frißt sich in Kreisen durchs reife Getreide, da müssen wir dran vorbei. Seine Wolke aus zerspelzem Stroh nimmt uns Sicht und Atem, aber mitten in ihr kreisen drei, vier, sieben große Raubvögel und stoßen immer wieder auf ihre plötzlich schutzlose Beute nieder; keine Ahnung, wie man in dieser Staubwalze etwas sehen, geschweige denn manövrieren kann. Einmal beim Wenden kommt uns die Maschine (auf ihrem Panzer steht “Maus”) so nah, daß ich beiseite springen möchte. Über uns schwirrt ein Rätsel in der Luft, bleiche, fingerlange Ts mit Antennen. In dem Moment, in dem ich kapiere, daß das panische Heuschrecken sind, sagt Herr G: schau, da fliegt Angelbedarf. Genau so sieht es aus.

Der Maschinenlärm ist betäubend, und wir sind froh, als wir vorüber sind. Eine Gruppe Bauern steht fachsimpelnd etwas abseits um einen vergleichsweise zierlichen Traktor am Feldrand herum. In der Ferne auf der anderen Flußseite weht wie Rauch genau so eine Staubsäule über die Felder: Erntezeit überall. Ich mache keine Bilder; ich möchte nicht, daß meine Kamera Staub schluckt.

Weg durch die Heide oberhalb von Oberwesel
Da rechts ist schon der nächste Weg!

Später sitzen wir bei Kaffee und Zwetschgenstreusel in Oberwesel. So schönes Wetter, hören wir am Nebentisch; gar nicht so heiß wie die letzten Jahre. Begünstigter Landstrich: ein ganz normaler Sommer, bis jetzt. Nur der Rhein steht etwas hoch.

Beim Abschied fällt mir eben noch das Buch ein, das ich für Herrn G im Rucksack habe: da! eine Fuge, und ohne Bitterkeit: Der vergessliche Riese, ich hab es gern gelesen.

Tasse Raffee?

Ich mochte den Eckladen mit Haushalts- und Küchenkrempel, ein Labyrinth aus überfüllten Regalen voller Vorkriegsware. wenn man was wollte, mußte man die Besitzerin fragen, die, über 80, sämtliche 6000 Artikel im Kopf hatte und stolz darauf war. Preise machte sie nach Sympathie. Ihr Sohn, der schließlich den Laden auflöste, als sie sich den Oberschenkelhals gebrochen hatte, stand zwischen Gebirgen aus Käsereiben, Fleischwölfen, Milchwächtern, Töpferware und Feldbesteck und war froh um jedes Stück, das ging.

So kam ich an eine Kaffeemühle für ein paar Mark, wahrscheinlich aus den Siebzigern, zum An-die-Wand-Schrauben. Das Kaffeegefäß zum Drunterhängen fehlte; Kurbel und Montagebrett waren so häßlich, daß Herr Kritz sie mir gegen was Schlichtes austauschte. Ein ganzes Pfund Bohnen paßt hinein und läßt sich mit Muskelkraft und Radau Portion für Portion in ein Gläschen mahlen, wenn man die Stellschraube für den Mahlgrad dabei festhält. Ich mochte die Mühle mit allen Macken; am meisten entzückte mich, daß, wer auch immer den (völlig überflüssigen) Schriftzug “Kaffee” darauf anbringen sollte, offenbar die Frakturschrift nicht beherrschte:

Kaffeemühle mit Aufschrift "Raffee" in Fraktur
… aber man weiß, was gemeint ist.

Nun wird sie ausgemustert. Die Neue ist elektrisch.

Kurzsichtig

Auf einer kleinen, netten Veranstaltung, auf der kleine, nette Bierbrauer ihre Erzeugnisse vorstellten, fielen diese Kunststoffbehälter auf, aus denen Sitzgelegenheiten, Theken, alles mögliche zusammengebastelt war. Unmengen davon. Das sind, erklärte einer, die Einwegfässer. Die ganze kleine, nette Sache: ein Berg aus Plastikmüll.

Und die, die da protestieren, schimpft einer über die Blockaden im Hambacher Forst, die waren doch noch nicht mal geboren, als die Verträge geschlossen wurden, und was er als Argument gegen die Proteste meint, ist ein, wenn nicht das Argument dafür.

Wir fressen unseren Kindern und Kindeskindern die Teller leer, hinterlassen ihnen eine Problemmüllhalde und nennen es: Lebensstandard.

Alte Knochen

Bahnhofsromanik
Bahnhofsromanik, schadhaft.

Die Lahn mit Herrn G. wird zur guten Gewohnheit: Von Obernhof mäandern wir flußauf bald durch den Westerwald, bald durch den Taunus; die erste richtige Sommerwanderung des Jahres, auch wenn es in der Nebelsuppe des Morgens noch nicht danach aussieht.

Als wir den ersten Gipfel erreichen, hat auch die Sonne sich durch die Wolken gebrannt. Sattgrün dehnt sich das Hügelland und ist nur, wenn man genau schaut, etwas angefressen: Fasziniert beobachten wir, wie hellgrüne Raupen sich aus dem Laub stürzen, ruckweise fallend, knapp überm Boden hängen bleiben und sich dann in zuckenden Bewegungen am eigenen Faden wieder in die Höhe wickeln. Leicht sammelt man Raupen auf Hut, Schultern, Rucksack.

Quörk, quarr, quörk, quarr: Herrn G.s Schuhe begleiten jeden Schritt mit einem Knarren. Leder auf Leder halt. Später gestehe ich, daß ein gut Teil des Geräuschs nicht seine Schuhe, sondern meine Knie sind. Neue Schuhe und alte Knochen im Duett auf dem Weg, der uns über felsige Rücken zum Wasser führt und wieder in die Höhe. Wenn wir uns laut genug unterhalten, hören wir es kaum.

Weiter …

Von der Schönheit

Ich bin in einem Alter, in dem das größte Kompliment offenbar lautet: Du hast dich gar nicht verändert! Mir geht es, wenn ich das höre, wie Brechts Herrn K.: ich erbleiche. Ich habe doch Ansprüche ans Altern! Ich möchte bitte auch weiser, unabhängiger, abgeklärter, gelassener geworden sein, oder es zumindest gerade werden!

Das ist die flapsige Zusammenfassung einer etwas komplizierteren Sache.

Natürlich bezieht sich das o.a. Kompliment allermeistens auf das Äußere, und da ist es gelogen. Das ist nicht, was mich daran ärgert. Mich ärgert, daß es jemandem nötig erscheint, mich meiner Attraktivität zu versichern. Du hast dich gar nicht verändert! Ich höre in diesem Satz gleich mehrere Unterstellungen: Früher warst du schön, weil du ja jung warst. Jetzt ist das anders. Also mußt du traurig sein über den Verlust deiner Jugend und den damit automatisch einhergehenden Verlust deiner Schönheit, und darum … ach, dafür nicht, das ist ja wohl das mindeste …

Erstens: Es gibt in meinen Augen kein Alter für Schönheit. Ich kenne wunderschöne junge Menschen, und ich kenne wunderschöne Mittel- und Steinalte, wahre Augenweiden, die man immerzu betrachten möchte. Für mich ist Schönheit nicht quantifizierbar. Sie ist keine Funktion der Faltenzahl, keine Sache von Farbe oder Gewicht oder gar von dem, was man so am Leib zu tragen sich leisten kann.

Zweitens: Ich kann meine Attraktivität selbst sehr gut einschätzen. Und ich weiß auch, daß sie schwankt zwischen unsichtbar und Hingucker. Mehr noch – ich weiß inzwischen sogar, wovon das eine, das andere abhängt. Und es kommt, doch, echt jetzt, von innen.

Das ist ein Geschenk der Jahre, das Wachstum. Größer werden im Denken und Fühlen, während man vielleicht äußerlich zusammenschrumpelt. Man kann vielleicht sogar innen größer werden als außen. Aber das Rezept ist kompliziert, und es ist mit Sicherheit nicht für jeden Menschen dasselbe. Ich suche selbst noch.

Und drittens: Wie kommst du darauf, daß ich auf billigen Trost aus bin?

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Hier gefunden: Frau Quadratmeter hat eine Aktion gestartet und allerhand lesenswerte Texte zum Thema Älterwerden gesammelt. Das Echo war groß, es ist noch nicht verhallt, das Thema Älterwerden betrifft alle Menschen. Altwerden ist noch mal eine ganz andere Übung und, wie man hört, nichts für Feiglinge.

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Zu “Schönheit und Alter” fällt mir immer diese Geschichte ein, die ich als Kind gehört habe (und über deren Wahrheitsgehalt ich nichts sagen kann; ich weiß nicht mal mehr, wer mir das erzählt hat): In der Bretagne, Urlaubsziel für viele Jahre, konnte man allüberall Teller, Tassen, Karten und Kram mit goldigen bretonischen Mädchen in Tracht erwerben. Das sei der reine Kitsch, bekam ich erklärt; zu früheren Zeiten habe man in der Bretagne keine jungen Mädchen abgebildet. Gemälde und später Fotos habe es lange Zeit nur von Frauen mit Runzeln und weißen Haaren gegeben; die habe man schön gefunden. Die Bildchen junger Frauen seien erst mit den Touristen aufgekommen – die wollten’s eben jung und niedlich.

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Mit dem Thema bin ich noch nicht fertig; ganz und gar nicht.

 

 

Ohne S.

Zum Abschied aus dem Kindergarten durften alle Vorschulkinder eine Nacht im Zelt schlafen. Decken und Matratzenlager und Hagebuttentee. Aus dieser Nacht stammt meine erste dokumentierte Erinnerung an S.: Ein Foto zeigt uns beide in einer Ecke des Zeltes, Kopf an Kopf, in eine Decke gehüllt, anscheinend in ein Gespräch vertieft. Ich schaue mit großen Augen ins Weite, S.  grinst mit weißen Zähnen und drei netten Grübchen. Ich nehme an, wir spielten mein Lieblingsspiel: zwei Kinder wären verloren gegangen in Sturm und Schnee und hätten sich eine Höhle gebaut.
Er kam dann in meine Klasse …

Turmtraum

Daß ich gern wohnen würde in einem Turm, viele, viele Stufen hoch, gern gewendelt, oder auch Leitern, warum nicht, Blick aus Fenstern in alle Richtungen über die Stadt und über sie hinaus, Platz zum Denken und für sonst nicht viel, vielleicht in Gesellschaft von Glocken und einer simplen Pflicht, das vermerke ich mit einer gewissen Verwunderung.

Lektüren

Ich sitze im Bus und lese in meinem Unterwegsbuch. Hinter mir ein Pärchen, Anfang 20, sehr verliebt; die beiden haben die Köpfe über einem Smartphonebildschirm zusammengesteckt und sind ins Gespräch vertieft.
Er: »Das zweite versteh ich nicht.«
Sie: »Eifert nicht? Ich verstehe das so, daß sie sich nicht aufregt … hat keinen Eifer oder so, also entweder ist sie da oder nicht.«
»Ah, ja, das kann sein …«
»Weiter: treibt nicht Mutwillen …

Mit den Schwalben

»Die ziehen nach Süden«, erklärten die Eltern, als das Kind fragte, warum jeden Tag mehr Schwalben auf den Stromleitungen hinterm Haus saßen. »Die erfrieren sonst im Winter.«
Das Kind stand auf einem Sessel am offenen Fenster, es trug schon Strumpfhosen, denn im Schatten war es kalt; erster Holzrauchgeruch lag über abgeernteten Äckern. Auf den blitzenden Drähten saßen die Schwalben, ständig kamen neue Scharen an und suchten Platz. Hier flatterte es …

Im Wald mit D.

Mit D. hatte ich wenig gemeinsam außer einer Pfadfindervergangenheit (an verschiedenen Enden der Republik), kaum Geld und der sich daraus ergebenden Rauhbauzigkeit bei der Freizeitgestaltung.
Wir hatten so lange darüber geredet, daß eine Wanderung unausweichlich schien. Kartenmaterial besaß ich schon: in den Kellerwald sollte es gehen. Zwei Tage, vielleicht drei; notfalls am Montag die Vorlesung schwänzen.
Als D. am Samstagmorgen auftauchte …