Kaffee hinter Woppenroth

Ich bin zum Kaffeetrinken eingeladen. Der Ort heißt Kirchberg, das im Hunsrück ist gemeint, und da die Busse von Simmern spärlich fahren, muß man sich ein Auto nehmen. Oder man nimmt sich Zeit und geht von Kirn zu Fuß.

Hier ist Hunsrück.

23 Kilometer, und so viel zu sehen! Von der Nahe hoch in die Hügel: drunten im Städtchen autogerecht überformte Historie, dann lichter gebaute Villen, ein Krankenhaus, und vor den Waldrand schließlich haben die Stadtplaner die Neubaugebiete gesetzt. Zu genau darf ich nicht gucken, sonst leidet die Laune.

Keine Zeit für die Kirner Dolomiten – hinauf und hinaus! Etwas Wald (keine Zeit für den Teufelsfels), Vororte, ein bißchen Landstraße und dann, endlich, der Hunsrückhöhenweg. Der hält, was er verspricht – im Dunst breiten sich Felder und Herbstwald wie ein kostbarer alter Teppich bis hin zur dunklen Masse des Erbeskopfs. Es geht durch Woppenroth, vielleicht bekannter als Schabbach aus den Heimat-Filmen. Der Ort beginnt mit einer hallengroßen Kaisereiche; ein paar hundert Meter hinaus dann liegt der Galgenhügel mit dem schönsten Blick, den man sich für sein letztes Stündlein vorstellen kann.

Freundlich, aber karg.

Gern hätte ich mich hier ein wenig niedergelassen; aber: keine Zeit, keine Zeit! Um drei gibt es Kaffee. So trabe ich durch Kirchberg und komme kaum dazu, das Parkplatz- und Garagenelend in dieser Ministadt zu würdigen – Aprikosenkuchen mit Sahne warten, liebe Gesellschaft, alte Geschichten.

Zurück geht’s mit dem Bus.

Ganz hinten: der Erbeskopf.

Blick in die Zukunft

Es ist früh am Tag, als wir uns auf das letzte Stückchen Rheinburgenweg machen, das uns noch fehlt. 25 Kilometer, schnell hinauf in die Höhen, mit Blick auf den Rhein, die Mosel vielleicht, ein wenig Ahrtal.

Blick vom Berghang in den Nebel
Das wäre Ihre Aussicht gewesen …

Nun ja. Klart doch sicher noch auf im Laufe des Tages …

Blick über Felder in den Nebel
… oder vielleicht das hier.

Nicht?

Blick über Felder in den Nebel
Weil’s so schön ist …

Ach, machen wir das einfach noch mal, bei besserem Wetter, ja?

Kurz vor Himmel

Zwei Gestalten als Schatten auf dem Weg
Morgenlicht am Ortsrand.

Die Nacht hat uns frische Beine geschenkt, die können wir brauchen – gleich hinter Saulheim geht es hinauf in die Weinberge.

Grün gegen grün gekämmte Parzellen, hier und da ein Nußbaum darin, ein halb versunkenes Wingertshäuschen oder ein lärmender Vollernter, der eine Rebreihe nach der anderen zwischen die Schenkel nimmt und die Perkel von den Trauben schlotzt – die Stengel bleiben als Gerippe hängen. Ein ganzer Schwarm Arbeiter wird ersetzt durch eine brüllende Maschine. Sehr ordentlich sind sie nicht; wir finden genug Hängengebliebenes, um uns sattzuessen. (Trotzdem mögen wir sie nicht. Die Rebreihen werden weiter gesetzt ihretwegen. Wir haben beide als Kinder in der Traubenlese geholfen – voll Stolz die Schere! –; und Frau Amsel kannte einen, der ist von so einem Vollernter erschlagen worden.) Hin und wieder blitzen kleine Starenschwärme auf; wir hingegen werden von den automatischen Schießanlagen erschreckt, die in zufälliger Frequenz donnern, um die Vögel aus den Trauben zu verscheuchen.

Weinberge, Weinberge, Weinberge.
Hat hier jemand Agrarwüste gesagt?

Bei Vendersheim trödeln wir ein wenig beim Aussichtsturm herum. Der ist geschlossen, aber es gibt Nußbäume, eine Quitte, in Probierreben hängen überreife, zuckersüße Trauben und direkt an den Rastbänken ein Wahlplakat der CDU. Das Land vor uns breitet sich wie die Meeresbucht, die es mal war; der Himmel liegt wie Wasser darin, und als es wärmer wird, sehen wir obendrauf Wolken keimen, wachsen, mächtig werden und auf die Reise gehen. Der Tag leuchtet hagebuttenrot in den Rosenbüschen zwischen den Weingärten. Unser Ziel können wir beinah schon sehen.

Weiße Wolken über Weinbergen
Wolken schwimmen über uns.

Frau Amsel und ich haben beide biographischen Bezug zu Rheinhessen – eine ererbt, eine geschenkt –; für sie war es immer das gelobte Land, für mich Durchreisegebiet. So, im Schneckentempo und mit Häuschen auf dem Rücken, waren wir hier noch nie. Wir wissen gar nicht, wo wir hinschauen sollen und betrinken uns an Sonne und Schönheit. Wobei – ist das wirklich schön, oder ist das nur Daheim? Pulls on the heartstrings, jedenfalls, sagt Frau Amsel. Man möchte das alles malen, mitsamt Wein, Wolken, Staren, Windrädern, den freigiebigen Walnußbäumen und dem Speierling, der aussieht wie eine Birne, zu den Vogelbeeren zählt, großartig schmeckt und einem, wie Frau Amsels Großmutter gesagt hätte, das Hemd in den Hintern zieht.

Blick über Wißberg Richtung Nahetal
Heutiges Dach der Welt: der Wißberg.

Wir sind ordentlich gestiegen (für die Schweizerinnen im Publikum: keine 300 Meter). Um den Wißberg bin ich jahrelang herumgefahren; Frau Amsel kannte ihn auch nur aus der Ferne. Wie kann das sein? Er ist im Weg, da hätte man doch mal drüber gemußt? Wir haben, das ist nicht zu leugnen, was verpaßt. Nun stehen wir oben wie die Kaiserinnen und betrachten unser Reich.

Himmel, Hügel, im Hintergrund der Taunus.
Alles unsers!

Beim Abstieg nach Sprendlingen verfranzen wir uns, finden eine Schaukel mit Aussicht, jagen am Bach in Pfaffen-Schwabenheim Hühner, erfahren, daß es im Appelbach Aale gibt, und in Bosenheim lassen wir uns abholen, bevor es losgeht mit Kreuznachs Ausfallstraßen und Industriegebiet.

Wir sind noch mal 22 Kilometer gegangen. Wir waren gefühlte Wochen unterwegs, haben Sonne, Aussichten, Schönes und Erinnerungen für den ganzen Winter gesammelt. Und Pläne für die nächsten Ausflüge haben wir auch schon: noch mal, bitte!

Über den Rhein

Frau Amsels Plan ist simpel: Gehen wir doch von Darmstadt nach Bad Kreuznach! Zwei Tage, zwei Landschaften, zwei Bundesländer; der Herbst ist gerade so herrlich, wie wär’s mit morgen früh?

Wolkenwand und Regen über Acker
Wir nehmen auch Regensachen mit.

Solche Unternehmungen können vermutlich nur genau so gelingen – überfallartig. Ein paar Stündchen später, in aller Herrgottsfrühe, stapfen wir in Wolfskehlen durchs Gewerbegebiet (von Darmstadt bis hierher sind wir neun Kilometer mit dem Bus gefahren) und raus, Richtung Westen.

Frau Amsel hat schlaue Software auf dem Telefönchen, die soll uns lotsen. So ganz traue ich ihr nicht und verlange ein paarmal alternative Wege, aber: meist hat sie recht und kennt wirklich die kürzeste, die schönste Strecke, die mit der geringsten Steigung, den wenigsten Autos und dem besten Untergrund.

Zum Rhein durchs Ried ist es übersichtlich: zehn Kilometer flaches Ackerland, immer zwischen Feldern und unter einem morgenschönen Himmelszelt. Viel gibt es hier nicht. Einmal ist Graf Zeppelin hier abgestürzt; auf dem Denkmal steht freundlich: “Hier landete …” Der Damm am Rhein führt uns zum Fähranleger mit dem hübschen Namen Kornsand. Einsfuffzig kostet es nach Nierstein; auf dem Schild am Fährgasthaus steht: “Nicht irre werden!”, und das ist eigentlich immer ein guter Rat.

Nierstein lockt – wir sehen nur seine schmutzigen Ränder –, und bekommt einen Eintrag im Wanderplanbuch. Nach langem Trotten durch häßliches Neubaugebiet (ich hatte nicht auf das Telefönchen hören wollen …) dann endlich, was wir die ganze Zeit wollten: Rheinhessen. Reben, Äcker, rundgespülte Hügel. Mit Blick auf Schwabsburg picknicken wir das erste Mal.

Graue Wolken über Hügeln
Wird schon besser.

Rheinhessen ist der Landstrich ohne großen Namen, der zu drei Vierteln aus Himmel besteht – und der will heute regnen, aber nur kurz. Die Wolken galoppieren grau vor Grau und formieren sich zu immer neuen Bildern. Am liebsten würde ich ihnen entgegenlaufen, aber der nasse Ackerboden hängt sich als Bleigewicht an die Sohlen und klebt uns an den Weg.

Sonnige Aussicht über Ackerland, im Hintergrund Windräder
Na, ist das nix!

Selzen, Hahnheim, Udenheim – das Telefönchen lotst uns an allen Dörfern vorbei; ich habe allerdings den Verdacht, daß man in den meisten ohnehin keinen Kaffee bekäme. Das schadet nichts; wir leben bestens aus dem Rucksack, mit Zuschüssen vom Wegesrand. Zusammen haben wir zwei Kilo Essen mit, die tragen wir lieber inwendig. (Alles, was wir an Gewicht wegessen, ersetze ich durch Walnüsse. Dieses Jahr sind sie gut und überall.) Und wie dicht die Orte beisammen liegen! Mit dem Auto bekommt man hier ganz falsche Vorstellungen. Und überhaupt, wieso haben wir das alles früher nie gemacht? Es ist wunderbar, einen Fuß vor den anderen zu setzen und so voranzukommen.

Wolke im Abendhimmel über Weinbergen
Langsam kommt der Abend.

Ein wenig eilig haben wir’s dann am Nachmittag doch – wir müssen unseren Schlafplatz erreichen. Liebe Freunde haben Ja gesagt auf die Frage: Können wir morgen in eurem Garten zelten?, und nach einer letzten Anstrengung unter der Autobahn durch kommen wir mit der Abenddämmerung in Saulheim an, längst nachtmürbe. Frau Amsel baut ihr Zelt auf, ein Wunder an Raum und Leichtigkeit.

Wir sind 32 Kilometer gegangen, ein bißchen beeindruckt davon, und schlafen wie Steine. Die Mücken machen sich über mich her, aber die wollen auch leben, und mich wird’s erst später jucken.

Fortschreitend mit Herrn G.

Den Weg kennen wir, eigentlich. Andersrum sind wir den schon gegangen; aber: kennst du den Weg in eine Richtung, kannst du dich in die andere trotzdem verlaufen. Im Café in St. Goar gibt’s Rosinenschnecken, nicht die Standardware aus den Kettenbäckereien, sondern ungenormte Herrlichkeiten. Solang sie noch können, sagt die Bäckerin, backen sie alles selbst, auch wenn der Staat die Kleinen anscheinend nicht will. Ach, Verordnungen und Auflagen? Das höre ich oft. Aber, sagt Herr G, wir wollen das, und die Bäckerin schaut kurz überrascht und lächelt dann.

Aussicht bei St. Goar über das Rheintal, abgeerntete Felder und Wald
Ganz neue Lichtverhältnisse.

Heute also alles andersrum. Den Panoramaweg hinaufschnaufen; umdrehen zur Aussicht. Auf der ersten Bank im Wald die Rosinenschnecken verzehren. Dann: links oder rechts? Wir sind über beide Strecken schon mal gekommen. Ah, sage ich, links war doch die winzige Hütte, in der uns der Hund beim Picknick besucht und eine begeisterte Runde gedreht hat, dabei mit dem wedelnden Schwanz gegen sämtliche Wände auf einmal trommelte – Das, unterbricht mich Herr G, war aber an der Mosel, und hat natürlich recht. Mein Wegegedächtnis kannste vergessen, jammere ich. Zeiten, Orte, alles geht durcheinander; woran ich mich erinnere, sind Ereignisse und die Geschichten, über die wir geredet haben, ganz losgelöst von Zeit und Raum. Und natürlich Bilder, Blickwinkel, Farben; was das wohl für eine Landkarte gäbe? Keine brauchbare, will mir scheinen. Andererseits wandere ich ja nicht zur Orientierung, sondern weil’s Spaß macht.

Schwarze Pilze im Moos
Der Wald ist diesen Sommer voller Pilze.

Das wird mit dem Alter nicht besser, sind Herr G und ich uns einig. Man hat so viel gesehen, hat schon Unmengen anderen Krempel im Kopf, und das Hirn legt irgendwann Ähnliches einfach zusammen, sortiert gnadenlos aus, nach möglicherweise biographisch begründeten Kriterien … – Sind wir eigentlich noch richtig? Die Jahreszeiten haben gewechselt, Waldstücke vom letzten Mal sind jetzt Aussichten; die Abkürzung da hat ein Forstfahrzeug frisch in den Abhang gefräst, und manchmal hat der Weg einfach gar nichts mit der Karte zu tun, aber: stimmt wohl, ja.

Buchenzweig im Gegenlicht
Licht!

Wir finden dann doch über die Hügel, fast ohne Umweg. Raus aus dem Wald empfängt uns die Apokalypse: ein Mähdrescher, ein gewaltiges, brüllendes Insekt mit auskragenden Mandibeln, frißt sich in Kreisen durchs reife Getreide, da müssen wir dran vorbei. Seine Wolke aus zerspelzem Stroh nimmt uns Sicht und Atem, aber mitten in ihr kreisen drei, vier, sieben große Raubvögel und stoßen immer wieder auf ihre plötzlich schutzlose Beute nieder; keine Ahnung, wie man in dieser Staubwalze etwas sehen, geschweige denn manövrieren kann. Einmal beim Wenden kommt uns die Maschine (auf ihrem Panzer steht “Maus”) so nah, daß ich beiseite springen möchte. Über uns schwirrt ein Rätsel in der Luft, bleiche, fingerlange Ts mit Antennen. In dem Moment, in dem ich kapiere, daß das panische Heuschrecken sind, sagt Herr G: schau, da fliegt Angelbedarf. Genau so sieht es aus.

Der Maschinenlärm ist betäubend, und wir sind froh, als wir vorüber sind. Eine Gruppe Bauern steht fachsimpelnd etwas abseits um einen vergleichsweise zierlichen Traktor am Feldrand herum. In der Ferne auf der anderen Flußseite weht wie Rauch genau so eine Staubsäule über die Felder: Erntezeit überall. Ich mache keine Bilder; ich möchte nicht, daß meine Kamera Staub schluckt.

Weg durch die Heide oberhalb von Oberwesel
Da rechts ist schon der nächste Weg!

Später sitzen wir bei Kaffee und Zwetschgenstreusel in Oberwesel. So schönes Wetter, hören wir am Nebentisch; gar nicht so heiß wie die letzten Jahre. Begünstigter Landstrich: ein ganz normaler Sommer, bis jetzt. Nur der Rhein steht etwas hoch.

Beim Abschied fällt mir eben noch das Buch ein, das ich für Herrn G im Rucksack habe: da! eine Fuge, und ohne Bitterkeit: Der vergessliche Riese, ich hab es gern gelesen.

Hunsrücktrödeln mit Herrn G.

Städtchen im Morgenlicht.

In Oberwesel starten wir, das ist ein ummauertes Städtchen am Rhein mit einer Bäckerei am Marktplatz, deren Mitnehmkaffee ich in meine Blechtasse schütte; großer Pluspunkt. Wie schön Oberwesel ist, merkt man eigentlich erst, wenn man nicht recht hinausfindet und zwischen Häuschen, Hinterhöfchen und Gärtchen irgendeinen Schnörkelpfad nach oben nimmt; dann ist der Ort auch schon vorbei, und man schaut erstaunt über den Stadtgraben zurück auf die Dächer. Weiter geht’s, hinauf in die Felder.

Über die Felder gelangt man schnurstracks zu Fuß in die umliegenden Dörfer, ein gemächliches Stündchen mit Lerchen, Fotopausen und gelegentlichem In-den-Acker-Hechten, denn hier oben gibt es keine Fuß-, sondern nur Schleichwege. Ein Auto paßt gerade so darauf. – Wir erwischen ein Dorf mit Laden und Kindergarten. Im Laden ersteht Herr G. Sonnenmilch für unter 20 Euro (soviel hätte sie in der Apotheke in der Stadt gekostet) und wird dann von zwei Kindergartenkindern über den Zaun hinweg beim Einschmieren bestaunt. (Es sind dieser Tage wirklich nur zwei Kinder in der Hofpause, pandemiebedingt, erklärt uns die Erzieherin.)

Aussicht über Felder auf ein Stückchen Rhein.
Lerchenhöhen.

Und dann kommt Hunsrück. Herr G. und ich fallen in Wandertrab. Der Hunsrück ist vor allem Wald; in Touristik und Marketing: Räuberwald (hier hat der Schinderhannes Johannes Bückler sein Unwesen getrieben). Jeder Ort hat eine Schinderhannesschänke oder etwas in der Art; es gibt Schinderhanneshöhlen und einen Schinderhannesweg, einst Bahntrasse, jetzt steigungsarmer Fahrradweg. Wir queren die Autobahn, die sich dafür mit stundenlangem Dröhnen rächt, und einen Autohof mit Autobahnkapelle. Auf dem absurd weiten Parkplatz rastet ein Geschwader von Wohnmobilen in Eigenheimgröße; drumherum jagen sich Kinder.

Laubwald grün, Nadelwald kahl
Links Laub, rechts nadelt’s.

Immer wieder stehen wir vor freien Flächen, die mal Wald waren. Es wird aufgeforstet, mit südlicheren Hölzern, aber das wird Jahrzehnte dauern. Windkraftanlagen winken über die Hügelkronen hinweg. Der Flugverkehr ist nicht, was er mal war, und wäre es nicht schön, wenn das so bliebe? So blau ist der Himmel überm Hunsrück nämlich auch nicht immer.

Irgendwann erreichen wir Emmelshausen, von wo ein Bähnchen wieder runterfährt zum Rhein, und auf der Fahrt erleben wir dann doch noch eine Sensation (kein Bild): In einem Tunnel macht der Zug eine Vollbremsung, der Zugführer steigt fuchtelnd aus, und aus dem Fenster sehen wir etwas Ungestaltes vom Bahndamm hopsen, einen grauen Gnom die Böschung hoch flüchten und sich unter einen Farn kauern: ein Uhuküken ist das, halbmetergroß und noch flaumig, das starrt aus Bernsteinaugen beleidigt auf den Zug, wie er langsam wieder anrollt. Der Zugführer kriegt Applaus. Das, sagt er, war knapp.

Ich habe noch nie ein Uhuküken in freier Wildbahn gesehen. Jetzt mache ich mir eine Sorge mehr. (Zu Recht, bestätigt Herr G.: 70% der Uhus überleben nicht das erste Jahr.)

Westentaschenwandern

Zu Fuß erst lernt man Landstriche kennen – wandern Einheimische mit, gibt’s die Geschichte dazu, und zwar die, die man nirgends lesen kann. Ich habe Glück und bin am Rhein mit einer Anrainerin unterwegs. Hier der Bach, der vor ein paar Jahren das halbe Dorf demolierte; da die vielen Walnußbäume, die vor hundert Jahren ein einzelner Bauer pflanzte. Der Weg, den hat ihr Mann mit befestigt, als die Gemeinde nicht in die Pötte kam; da unten hat’s gebrannt, im alten Ort, zweimal gleich. Meine Lieblingsgeschichte: der Karnevalsverein der Damen, die im vorletzten Jahrhundert Dorfgeschichte schrieben, weil sie sich zum Feiern erst mal emanzipieren mußten.

Eichen, Moos, Ruhebank.

Das ist der lichte Eichenwald, in den die Leute einst ihre Schweine trieben; heute legt ein Wanderverein kleine Pfade hindurch, für kletterfeste Urlauber. Zweidreimal im Jahr kommt der Rettungshubschrauber – hoch, an die Felsenkante, manchmal auch unten ans Wasser, wo sich der Rhein die Nichtschwimmer nimmt.

Hinter der Burg frißt ein Steinbruch die Hügelflanke; immer weiter kann man ins Tal hinunterschauen, immer weiter die Bagger und Förderbänder hören. Eigentlich sollte das längst stillgelegt sein, aber nun wurde der Betrieb verlängert – Kies ist kostbar. In die andere Richtung zeigt der Blick vom Aussichtsturm Idyll.

Rheinabwärts geschaut, der Himmel ohne Flugverkehr.

Oben im Wald springen gerade die Knospen der Buchen auf; zwischen den Stämmen hallen Spechtsignale. Ein paar Wegbiegungen weiter gewaltige Flächen aus Splittern und Stümpfen, und die Fichten sauber am Wegrand aufgetürmt. Sieht schlimm aus, sagt die Anrheinerin; mal sehen, was das in ein paar Jahren wird. Das Tal verändert sich.

Abgeholzt.

Zur Zeit ist es eng für den Güterverkehr: an der Loreley ist ein Berghang heruntergekommen und hat die Bahntrasse verschüttet. Da wird jetzt repariert. In nur ein paar Jahren soll nur ein paar Meter weiter die Mittelrheinbrücke gebaut werden, ein Irrsinnsprojekt aus Auto-über-alles-Zeiten und vielleicht das Ende des “Welterbes Mittelrheintal”; das, sagt die Anrheinerin, werde sie zumindest nicht mehr erleben.

Am Ende gehe ich zur Bahn durch ihren Garten, wo ein Quittenbäumchen Knospen trägt, dicker als die jungen Zweige; Meisen streiten sich im Flieder, in angebohrten Baumscheiben richten sich Mauerbienen ein – es krabbelt und fliegt, wie ich es lang nicht mehr gesehen habe.