Alte Knochen

Bahnhofsromanik
Bahnhofsromanik, schadhaft.

Die Lahn mit Herrn G. wird zur guten Gewohnheit: Von Obernhof mäandern wir flußauf bald durch den Westerwald, bald durch den Taunus; die erste richtige Sommerwanderung des Jahres, auch wenn es in der Nebelsuppe des Morgens noch nicht danach aussieht.

Als wir den ersten Gipfel erreichen, hat auch die Sonne sich durch die Wolken gebrannt. Sattgrün dehnt sich das Hügelland und ist nur, wenn man genau schaut, etwas angefressen: Fasziniert beobachten wir, wie hellgrüne Raupen sich aus dem Laub stürzen, ruckweise fallend, knapp überm Boden hängen bleiben und sich dann in zuckenden Bewegungen am eigenen Faden wieder in die Höhe wickeln. Leicht sammelt man Raupen auf Hut, Schultern, Rucksack.

Quörk, quarr, quörk, quarr: Herrn G.s Schuhe begleiten jeden Schritt mit einem Knarren. Leder auf Leder halt. Später gestehe ich, daß ein gut Teil des Geräuschs nicht seine Schuhe, sondern meine Knie sind. Neue Schuhe und alte Knochen im Duett auf dem Weg, der uns über felsige Rücken zum Wasser führt und wieder in die Höhe. Wenn wir uns laut genug unterhalten, hören wir es kaum.

Daß es deprimierend wäre, solche Wege nicht mehr zu haben; daß man seine Knochen gut beisammen halten muß. Wie schnell man sich an Annehmlichkeiten gewöhnt, und was man darüber verlernt. Welche Bücher zu Zeiten des Mobiltelefons nie oder ganz anders geschrieben worden wären. Und woher Menschen Hoffnung nehmen und Sinn. Dabei streifen wir durch Landschaft, die Eichendorff entzückt hätte; der Himmel wölbt sich, die Lerchen steigen, am Feldrain wogen Nelken und andere Wiesenblumen.

Schaumburg
Die Schaumburg im Grünen.

Weil Koffein sein muß, nehmen wir in einem Gasthaus unten am Fluß Kaffee, Kuchen und Sprühsahne. Auf dem Zucker steht: “Für Sie mit Liebe gebacken von Wappenkoth & Riese”.

Auf der Promenade von Balduinstein finden wir ein Fronleichnamsarrangement: Farben über Farben, zu religiösen Symbolen gelegt: Kreuz, Taube, Kelch, Chi und Rho, ein Blütenteppich vor dem blumengeschmückten Altar. Die Feierlichkeiten sind lang schon vorüber, aber die Leute gehen sorgsam um die Blumen herum; nur ein Radfahrer konnte wohl nicht rechtzeitig bremsen und hat eine Schneise hineingefräst. Ich mache kein Foto.

Ich nehme die erste Sommerbräune mit heim, einen Stein und eine Zecke; und den festen Vorsatz: wiederzukommen, bald. Man wird ja nicht jünger.

 

 

 

0 thoughts on “Alte Knochen

  1. Woher nehmen Menschen Hoffnung und Sinn, die Frage vieler Fragen, darüber sind feine Unterhaltungen möglich. Im Gehen geht das besser wie sonstwobei. Ein so guter Wandersinnsuchnaturliebetext!

  2. Das ist so wunderbar.

    Seien Sie und Herr G. und die Sonnenbräune und die knarzenden Knie herzlich gegrüßt von einem, der dieses Wochenende mal nicht wandert. Sehnsuchtsvoll natürlich nach Ihrem Bericht.

    1. Und ich meinte zustimmend: tut er nicht, der Zahn der Zeit, der denkt nicht mal ans Nagenaufhören. (Wobei das Tagepflücken an oder von Bahnhöfen noch mal eingehender bedacht werden will.)

  3. Sehr selten nur bin ich neidisch, auf Deine knackenden Wanderknochen aber schon ein bisschen, weil mir zur Zeit längere Wanderwege verwehrt sind. Mir ist wohl klar geworden beim Lesen, dass Du für mich zu den Alterslosen gehörtest bisher – so wie Feen z.B. Die Geräusche aus dem Inneren waren eine Überraschung für mich.

      1. Der Henkel knackt wahrscheinlich auch noch nicht…:-)
        Danke, Zeit nehme ich gerne an, wo immer ich sie bekomme.

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