Drei kurze Geschichten über die Zeit

1.
Letzte Woche habe ich einen Kalender für das kommende Jahr gekauft und angefangen, Termine einzutragen. Damit ist die Illusion dahin, das Neue Jahr könnte ein wirklich neues sein; es ist eingeteilt, planbar und viel zu kurz, wie alle vorigen auch.
2.
Als wir klein waren, fuhren wir jedes Jahr zur Großmutter, fünfhundert Kilometer über ödes Land in eine winterlich-düstere Stadt. Ihre Wohnung, um einen enormen Kachelofen herum angelegt, stand voller Uhren – nicht abgeholten Uhren von Kunden des Großvaters, der hier vor dem Krieg seine Werkstatt hatte; wie nach ihm seine Tochter und schließlich deren Tochter auch. Uhren bevölkerten jede Fläche, drängten sich auf allen Schränken, auf den Fensterbänken, auf Anrichten und sogar auf den Tischen. Alle Uhren gingen; sie wurden regelmäßig aufgezogen, gewartet und repariert, wo nötig. Jede zeigte eine andere Zeit.
Unabhängig von Tag und Nacht klingelten, dröhnten und schepperten sie, was sie für die zu schlagende Stunde hielten. Schwiegen einmal alle Läutewerke, so hörte man sie ticken, Heerscharen alter Wecker, die Wand- und Schrankaufsatzuhren, porzellanene Zierührchen und drei, vier Großvateruhren auf dem Flur; man konnte anhand ihres Herzschlags mit geschlossenen Augen durch die Wohnung finden.
Der Vater, Verfechter preußischer Tugenden, mißbilligte diese Anarchie auf den Zifferblättern. Mehrmals regte er an, doch einmal sämtliche Zeitmesser auf Gleichschritt zu trimmen. Die Antwort war stets dieselbe: Nu, du bist hier bei Uhrmachers daheim.
Wir Kinder lernten, unter der Brandung der Zahnräder einzuschlafen und von keinem Glockenschlag wach zu werden, sondern erst vom Licht des Morgens.
Das ist viele, viele Jahre her. Was aus den Uhren des Großvaters geworden ist, weiß ich nicht.
3.
Ich habe neuerdings eine Wanduhr, ein schwarzes, glänzendes Quadrat. Sie empfängt, ganz Stand der Technik, das Signal des genauesten Zeitgebers per Funk. Doch wo andere stur 20:36:23 … 24 … 25 … durchblinken, da sagt meine Uhr: zehn nach halb neun, in freundlich leuchtenden Buchstaben. Und sie meint es wahrhaftig nur so ungefähr.

28 thoughts on “Drei kurze Geschichten über die Zeit

  1. hach, diese Word Clock, das wäre auch meine Lieblingsuhr! Von der träume ich schon lange.
    Ein schöner Einblick, wie’s bei Uhrmachers zuhause zugeht. Ich stelle es mir sehr bildlich (und akustisch) vor.

    1. Die Word Clock scheint mir persönlich eine Mogelpackung: die mißt die Zeit sehr wohl genau, und man kann sie auch genau ablesen; dafür wurde gesorgt. An meiner Uhr liebe ich das Ungenaue. Das ist so schön … unzeitgemäß.

  2. Die Uhrengeschichte ist klasse. Bei Gelegenheit muss ich dir mal von der Bauesoterik erzählen, die die Menschen in horizontale, vertikale und zirkulierende Charaktere unterscheidet. Die Uhrmacher?

  3. herrliche geschichten und toller kommentarstrang. grad klingelt der wecker auf dem iphone und sagt: los gehts, zu freundin c. und dann ans konzert. liebe gute böse zeitmesser!
    herzlich
    soso

  4. Uhr oder nicht Uhr scheint mir eine nicht unwesentliche Charakterunterscheidung zu sein. Ich trage auch keine und ignoriere sie gerne. Der Mann an meiner Seite verrät Nervosität leicht dadurch, dass er alle paar Minuten auf die Armbanduhr schaut – selbst dann, wenn er gar keine am Arm hat. So habe ich “Zeit” mich darauf einzustellen und Rücksicht zu nehmen. Eine Uhr mit Worten würde mir auch gefallen, da ich mit Zahlen noch nie etwas anfangen konnte. Der Uhrmacherhaushalt ist ganz wunderbar, schön dass Du dort Enkelin sein durftest.

    1. Als Kind fand ich den Uhrmacherhaushalt … normal. Vieles ist mir erst im Nachhinein aufgefallen, manches jetzt erst, wo ich einen Text draus mache.
      Ich habe gemerkt, daß man die Uhrzeit gut abschätzen lernt, wenn man keinen Zeitmesser hat. Und wenn man wirklich dringend wissen muß, wie spät es ist, kann man immer wen fragen.

      1. Meist braucht man das nicht einmal, die Welt ist voller Uhren, in jedem geparkten Auto und an fast jedem Handgelenk in Cafés. Nur die Kirchturmuhren gehen nicht mehr verlässlich richtig. 😉

  5. Das Uhrengeticke und Geläute der Grosseltern-Uhren ruft Erinnerungen wach. Eigentlich mochte ich den sanften, tiefen Stundenschlag von Opas Standuhr, die Uhr selber fand ich potthässlich.
    Schön geschrieben! und schönes Wochenende!

  6. wunderbar geschrieben, ich lief zusammen mit den laufenden Uhren durch eine dunkel wirkende Wohnung, sie hatte einen langen Flur, der um die Ecke bog, nein verlaufen habe ich mich dort nicht, weil mir der Gong der Standuhr den Weg wies 😉
    schade, dass du nicht weißt was aus all den Uhren geworden ist…
    herzlichst
    Frau Blau

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert