Westentaschenwandern

Zu Fuß erst lernt man Landstriche kennen – wandern Einheimische mit, gibt’s die Geschichte dazu, und zwar die, die man nirgends lesen kann. Ich habe Glück und bin am Rhein mit einer Anrainerin unterwegs. Hier der Bach, der vor ein paar Jahren das halbe Dorf demolierte; da die vielen Walnußbäume, die vor hundert Jahren ein einzelner Bauer pflanzte. Der Weg, den hat ihr Mann mit befestigt, als die Gemeinde nicht in die Pötte kam; da unten hat’s gebrannt, im alten Ort, zweimal gleich. Meine Lieblingsgeschichte: der Karnevalsverein der Damen, die im vorletzten Jahrhundert Dorfgeschichte schrieben, weil sie sich zum Feiern erst mal emanzipieren mußten.

Eichen, Moos, Ruhebank.

Das ist der lichte Eichenwald, in den die Leute einst ihre Schweine trieben; heute legt ein Wanderverein kleine Pfade hindurch, für kletterfeste Urlauber. Zweidreimal im Jahr kommt der Rettungshubschrauber – hoch, an die Felsenkante, manchmal auch unten ans Wasser, wo sich der Rhein die Nichtschwimmer nimmt.

Hinter der Burg frißt ein Steinbruch die Hügelflanke; immer weiter kann man ins Tal hinunterschauen, immer weiter die Bagger und Förderbänder hören. Eigentlich sollte das längst stillgelegt sein, aber nun wurde der Betrieb verlängert – Kies ist kostbar. In die andere Richtung zeigt der Blick vom Aussichtsturm Idyll.

Rheinabwärts geschaut, der Himmel ohne Flugverkehr.

Oben im Wald springen gerade die Knospen der Buchen auf; zwischen den Stämmen hallen Spechtsignale. Ein paar Wegbiegungen weiter gewaltige Flächen aus Splittern und Stümpfen, und die Fichten sauber am Wegrand aufgetürmt. Sieht schlimm aus, sagt die Anrheinerin; mal sehen, was das in ein paar Jahren wird. Das Tal verändert sich.

Abgeholzt.

Zur Zeit ist es eng für den Güterverkehr: an der Loreley ist ein Berghang heruntergekommen und hat die Bahntrasse verschüttet. Da wird jetzt repariert. In nur ein paar Jahren soll nur ein paar Meter weiter die Mittelrheinbrücke gebaut werden, ein Irrsinnsprojekt aus Auto-über-alles-Zeiten und vielleicht das Ende des “Welterbes Mittelrheintal”; das, sagt die Anrheinerin, werde sie zumindest nicht mehr erleben.

Am Ende gehe ich zur Bahn durch ihren Garten, wo ein Quittenbäumchen Knospen trägt, dicker als die jungen Zweige; Meisen streiten sich im Flieder, in angebohrten Baumscheiben richten sich Mauerbienen ein – es krabbelt und fliegt, wie ich es lang nicht mehr gesehen habe.

Postkarte vom Mittelrhein

Der Rheinburgenweg links des Rheins ist im Vergleich zum Rheinsteig drüben ein bißchen ruhiger, ausgeglichener, nicht gar so glamourös. Und meist auch nicht so überlaufen. Ich habe ihn gern, vor allem im Herbst. Von Boppard gehe ich flußaufwärts; in St. Goar gibt’s, wie ich weiß, Kaffee.

Das Land trägt neue Kleider.

Ich breche in aller Frühe auf. Die schleifenden Wolken machen mich erst glücklich und dann naß: der Morgen vergoldet sie, bevor sie regnen, und an ihnen hängt ein ganzer herrlicher Tag.

Hunsrück und Taunus liegen wie verbeulte Kupfer- und Messingpötte am Fluß; hier und da gibt die Sonne ihnen Glanz. Wo Wein wächst, leuchten Gelb und Rot. Lichter Eichen-Niederwald wechselt sich ab mit aufgelassenen Gärten, man sieht noch die Terrassenmauern und verwilderten Flieder. Kein Walnußbaum hat heute was für mich; ich frage mich, wie die Eichhörnchen das diesen Winter machen, ganz ohne Rucksäcke voller Proviant.

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