In meinem Fachbereich gab es die übliche Fachbereichsbibliothek. Diese hatte aber noch eine Fachbereichssonderbibliothek, in einem Extra-Räumchen und mit auserlesenen Öffnungszeiten. Über die Sonderbibliothek regierte sie. Ich weiß nicht, wie sie hieß, aber sie fiel auf: zwischen Fünfzig und Sechzig, hochgewachsen und knochig; ihr ergrauender Zopf war streng geflochten, ihre Brille riesengroß und ihr Pullover selbstgestrickt.
Oft sah man sie in der Stadt, wo sie mit ihrem Gefährten zusammen (beide trugen Wolle und hatten immer geräumige Stofftaschen bei sich) eines der Studentencafés aufsuchte. Dort saßen sie dann bei einem Bier und einem Tee, in getrennte Bücher vertieft oder auch einfach so ohne ein Wort nebeneinander, stundenlang.
In der Bibliothek trank sie ihren Tee aus immer derselben braunen Kanne und einer zierlichen Tasse ohne Untertasse. Sie war wortkarg, aber meist nicht unfreundlich; ihre Gegenwart lud einfach zum Schweigen ein. Es war ein bißchen wie einen seltenen, scheuen Großvogel beobachten — man vermied es, sich bemerkbar zu machen; nicht daß er am Ende davonstakste.
Dann kam die Reform des Studienganges. Im Zuge von Sparmaßnahmen wurden Stellen gestrichen, kleine Räume zu großen zusammengelegt — und die Sonderbibliothek geschlossen. Sobald wir davon erfuhren, hatte ihre Erscheinung in unseren Augen etwas besonders Eckiges, fast Beleidigtes.
Als dann die Regale, Tische und Stühle aus der Bibliothek entfernt wurden, sah ich sie zum letzten Mal im Fachbereich. Am nächsten Morgen fanden wir vor dem ausgeweideten Raum ihre Tasse und das Kännchen. Den ganzen Tag standen sie da, auf den ausrangierten Büromöbeln, sauber abgewaschen, und alle konnten sie sehen. Jaja, die Sparmaßnahmen, raunten wir uns zu.
Abends dann habe ich beide, Kanne und Tasse, an mich genommen.

…zum Heulen schön, Deine Geschichte…
Danke, Frau Eichhorn.
Lakritze, Du Madonna der Teekanne und Tasse! Wer oder was wird als nächstes adoptiert?
:))) Werde ganz bestimmt was finden.
Schöne traurige Geschichte. Deine Tassenveröffentlichungsfrequenz ist übrigens schwindelerregend …
Die wird jetzt rapide sinken. Ich bin ein paar Tage fort vom Netz.
es ist unglaublich, welche fülle an geschichten an tassen und teekannen hängen. überall stösst man auf welche, mir selbst kommen auch immer mehr geschichten.
es ist toll.
Ja, nicht? Das mochte ich auch sehr an der Aktion.
Sehr gute und nachdenklich stimmende Geschichte.
Hast du Sie oder Ihn eigentlich in der Zwischenzeit mal wieder gesehen?
Liebe Grüße!
Danke!
Ich habe leider gar keine Ahnung, was aus ihr geworden ist. Müßte mal wieder schauen; in Cafés werden die beiden ja noch gehen …
Bittersweet…
… eine Geschichte, wie ich sie mag.
Am Anfang dacht ich noch, wer hat denn 30 Tassen im Schrank ?
Inzwischen mag ich sie, und stöbere gerne in diesen verteilten Erinnerungen.
Wirst Du denn Deine wunderbaren 30 zusammenbekommen oder nach Deiner Rückkehr aus dem echten Leben vervollständigen ?
Diese Errettungsgeschichte gefällt mir gut. Danke dafür.
Irgendwie traurig und irgendwie doch schön. Was bleibt sind Tassen.
Ich musste gerade mal kurz überegen, ob ich an meinem alten Institut irgendetwas derartiges zurückgelassen habe. Aber nein, da war nichts.
🙂
Was für eine schöntraurige Geschichte! Dankeschön!
So schön erzählt! Und ein tolles Foto! Und ja, das hast Du richtig gemacht mit diesen beiden wunderhübschen Prachtexemplaren, liebe Lakritze 🙂
Schöne Geschichte! Und schöne Photos von den Tassen!
Möchte nur noch anmerken, dass die vermeintliche Teekanne eine Kaffeekanne ist und somit zweckentfremdet wurde. Ich weiß es, denn ich habe die passende Teekanne zu dem Service in gleichem Design zu Haus: http://picasaweb.google.de/lh/photo/_vwjxDQsgVL-vr6Egx7_Mg?authkey=Gv1sRgCKnTzP7Tvqio4QE&feat=directlink
Das ist ja großartig –! Danke für das Bild! Hast Du noch mehr von dem Geschirr?
Wunderschöner Beitrag. (Ich bin gerade dabei, alles über Lakritzes Tassen zu erfahren.) Hier rührt mich vor allem die Geschichte und deren Erzählung. Großartig.