Ohne S.

Zum Abschied aus dem Kindergarten durften alle Vorschulkinder eine Nacht im Zelt schlafen. Decken und Matratzenlager und Hagebuttentee. Aus dieser Nacht stammt meine erste dokumentierte Erinnerung an S.: Ein Foto zeigt uns beide in einer Ecke des Zeltes, Kopf an Kopf, in eine Decke gehüllt, anscheinend in ein Gespräch vertieft. Ich schaue mit großen Augen ins Weite, S.  grinst mit weißen Zähnen und drei netten Grübchen. Ich nehme an, wir spielten mein Lieblingsspiel: zwei Kinder wären verloren gegangen in Sturm und Schnee und hätten sich eine Höhle gebaut.
Er kam dann in meine Klasse; das war ein Segen für mich. Ich tat im Unterricht, was ich sollte, und stand in den Pausen verloren auf dem Schulhof. Die anderen Kinder waren laut und grob; ich beobachtete sie mit Abstand. Manchmal folgten sie mir und rissen an meiner Kleidung oder riefen mir Namen hinterher, die ich nicht verstand. Mehr als einmal rettete mich S., indem er, ein Ritter auf dem weißen Pferd, sich durch die schubsenden Kinder hindurchdrängte und mit mir an der Hand davonstob.
S. war anders. Er bewegte sich meist in einem hüpfenden Galopp; er mochte Reime und Geschichten, lachte viel, und im Spiel konnte er alles. Er fand meine goldenen Haare schön. Zuhause erzählte ich, mit dem könne man spielen. Meine Eltern waren sicher erleichtert.
Jeden Nachmittag stand ich um halb drei bei ihm vor der Tür; dann gingen wir auf Entdeckungsreise ums Dorf. Unsere Fahrräder trugen Namen. Wir kletterten auf Bäume, balancierten und bauten Staudämme am Bach. Einmal brachen wir im Eis ein. Wenn wir keine Schätze fanden, vergruben wir selber welche aus Kleingeld und bunten Steinen. Ich hoffte immer, ich würde einen jungen Fuchs finden, oder wenigstens einen Raben zum Zähmen.
Als S. mit Füller schreiben konnte, schrieb er mir auf einen Zettel meine libe. Ich fühlte mich geschmeichelt. Irgendwann suchte er meine Mutter bei der Gartenarbeit auf, um ihr mitzuteilen, daß er mich heiraten werde, sobald wir erwachsen wären. Sie hat es mir später erzählt.
Ich hatte nur Abenteuer im Kopf. Aus Sperrmüllbüchern lernte ich über Pflanzen, die man essen konnte, und wie man Unterstände baut. Also, ich wäre vorbereitet. Ich legte mir minutiöse Fluchtpläne zurecht und schrieb meinen Eltern auf Vorrat Briefe, daß sie sich keine Sorgen machen sollten. Die kamen nie zum Einsatz; S. fand Ausreißen keine so gute Idee. So kehrten wir von unseren täglichen Streifzügen zuverlässig mit dem Abendläuten heim.
Aber falls wir, überlegte ich, doch einmal auf Reisen gehen und dann, überlegte ich weiter, durch unglückliche Umstände voneinander getrennt und verschleppt werden und uns nach Jahren erst wiedertreffen würden – wir würden ein Erkennungszeichen brauchen. Ein zweifelsfreies. Vielleicht hätten wir allen Besitz auf See verloren? Womöglich wären wir völlig verändert, würden unterschiedliche Sprachen sprechen?
Wir dachten lange nach und einigten uns auf ein Handzeichen. Eines, das außer uns keiner konnte. Wir übten und übten – mit beiden Händen, man könnte ja eine verlieren –, bis es eine fließende Bewegung war, eine Verknotung der Finger, für Außenstehende schwer und für Erwachsene gar nicht mehr zu erlernen. Verstohlen begrüßten wir uns mit dieser Geste. Ich kann sie immer noch, mit beiden Händen. Oft verknote ich meine Finger so, wenn ich in Gedanken bin.
S. ist mir dann auf die normale Weise abhanden gekommen – verschiedene Schulen; Pubertät; die Zeit. Mein erster ganz großer Kummer in der fünften Klasse. Heute lebt er auf einem anderen Kontinent. Ob er sich erinnern würde?

0 thoughts on “Ohne S.

  1. Versuchen Sie es mit dem Handzeichen, falls Sie sich mal wieder treffen.
    Ich hatte in der zweiten Klasse auch so einen Kindheitsfreund. Er hieß Adnan. Ich habe des Gefühl, wir hätten ununterbrochen geredet, ich weiß aber mit Sicherheit, dass er kaum Deutsch sprach und auch nicht lange genug in der Schule blieb, um es zu lernen. Die Familie kehrte nach einem knappen Jahr in die Türkei zurück. Ich weiß weder einen Familiennamen noch den Heimatort, aber ich habe ihn nach all den Jahren nicht vergessen.

    1. Oh, ich werde es auf jeden Fall versuchen! — Vielleicht denkt Ihr Kindheitsfreund genauso an Sie? Ich glaube, so eine Erinnerung kann eine ganze Lebensphase erträglich machen.

  2. Ich bin scheinbar älter – bei uns gabs derlei Fahrten zum Kindergartenende noch nicht. Ausserdem war ich eh nur drei Wochen im Kindergarten.
    Ich glaube alle Menschen mit einer Grundausstattung an Empathie haben ähnliche Erinnerungen an Menschen, die irgendwann und in irgendeinem Zusammenhang wichtig für sie gewesen sind. An diese Menschen denken sie ihr Leben lang hin und wieder. Mir sind beim Lesen deines Artikel gleich vier eingefallen – jeder dieser Menschen wäre einen Post wert.
    Schöne Grüsse vom Schwarzen Berg

    1. Ich bin erste Generation Kindergartenendübernachterin. Und was hätte ich gegeben, da nur drei Wochen hinzumüssen –!
      Das gefällt mir ausnehmend am Bloggen. Solchen Erinnerungen kleine Denkmäler setzen; das ist zutiefst befriedigend.
      (Und daß man vom Schwarzen Berg den Regenbögen auf die Köpfe gucken kann –! Sehr, sehr schön.)

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