Bei die Frau Kruger

 
Ich war fünf geworden, da bekam ich mein erstes richtiges Taschengeld: zehn Pfennig. Zehn Pfennig! Ich hörte die Mutter was von Sparen sagen, aber der Vater meinte: laß sie doch, das muß sie selber lernen. Ich klemmte die Münze fest in die Faust und rannte aus dem Haus, rannte, was die Beine hergaben, den Schloßmorgen runter, am Heiligenhäuschen vorbei, die Oberstraße entlang (im Winter die Verlängerung unserer Schlittenbahn) bis zu dem grau gefliesten Häuschen mit den breiten Fenstern. Auf den Scheiben stand, braun auf orange, Union Kohlen. Kolonialwaren. Union Kohlen. Kolonialwaren. Vier Stufen hoch, die Türglocke schepperte (das tut sie bis in meine Träume heute), und dann stand ich im Laden von Frau Kruger, wo es immer gut roch.

Regale und Regale an allen Wänden, sogar über der Tür; viele Schubladen. Eine Kühltruhe. Ein Ständer, wo Obst und Gemüse schön arrangiert lagen. Eine Ablage für Taschen und Körbe, auf die ich mich mit den Ellenbogen stützte, wenn ich warten mußte. Darüber die Ladentheke, hoch und beleuchtet, darauf die mattsilbrige Waage (Bi-zer-ba) und eine Reihe großer Gläser. Deshalb war ich hier: bitzelige Brausebonbons; Saure Gurken und Gummischnuller, die an den Zähnen klebten; Plastikmuscheln, aus denen man einen Tropfen Bonbonmasse schlecken konnte.

Frau Kruger war winzig und krumm, als habe sie an Brille und weißem Haarknoten zu schleppen, und ihr Kittel raschelte, wenn sie auf die Trittleiter stieg, um etwas aus den oberen Regalen zu greifen. Ihre Tochter schimpfte dann immer und kletterte schnell selbst. Die Tochter sah ganz anders aus, hieß ganz anders, und sie hatte selbst eine Tochter, mit nur einem Vornamen und ungeduldigen Bewegungen. Sie half gelegentlich aus.

Für zehn Pfennig bekam ich: fünf Brausebonbons. Oder: zwei Saure Gurken. Oder: eine Leckmuschel. Ein Kaugummi kostete fünfzehn Pfennig. Ich lernte schnell zu überschlagen, mich zu entscheiden (das war schwer), zu verzichten und aufs nächste Mal zu verschieben. Frau Kruger hatte Geduld.

Ich lernte auch andere Sachen. Einmal war Frau Kruger krank, das erzählte ihre Tochter; ich ging heim und malte ein Bild für sie. Das brachte ich in den Laden und war sehr erstaunt, als Frau Krugers Tochter erst fast weinte, dann in die großen Gläser griff und mir Süßigkeiten gab, einfach so. Ich ging heim und malte noch ein Bild. Diesmal bekam ich nur zwei mickrige Brausebonbons. Beim dritten Bild hatte ich das Gefühl, Frau Krugers Tochter ist böse; ich verließ den Laden und traute mich zwei Wochen nicht mehr hin.

Manchmal sollte ich Butter kaufen oder Mehl oder Äpfel. Die Frauen aus dem Dorf standen in dem engen Raum und schwatzten, was ich höchstens halb verstand. Frau Kruger hatte Golden Delizius, Koxorangsch und im Winter dunkelrote Weihnachtsrenette. Ich mochte Grannissmiss, aber die gab es nicht oft. Bananen wurden an einen Haken gehängt und so gewogen. Nachher schnappten die Eltern immer nach Luft, wie teuer das sei. Irgendwann gingen sie dazu über, Gummibärchen und Schokolade selbst zu horten, so daß wir Kinder nicht in den Laden mußten, sondern im Wohnzimmer einkaufen konnten; aber das war nicht dasselbe.

(Viele, viele Jahre später ging ich in einen Kiosk in der Stadt und verlangte “eins aus jedem Glas”. Der Besitzer füllte mit Zange die Süßigkeiten in eine Papiertüte. Ich sah ihm an, daß er das viel Arbeit fand für die zweidrei Mark Umsatz, und kaufte noch eine Titanic dazu.)

 

Zu Jules van der Leys Erzählprojekt Die Läden meiner Kindheit. Mehr Geschichten: hier.

 

 

 

 

0 thoughts on “Bei die Frau Kruger

  1. Jetzt muß ich überlegen: Hatte ich einen Laden? Ich glaube nein. Ich war schüchtern. Läden waren mir unheimlich. Lieber ließ ich mir was mitbringen. Zu der Eisdiele, die ich oft aufsuchte, fällt mir nur die Postertapete ein, die die drei Zinnen zeigte, was sonst, der Laden hieß “Dolomiti”. Die Kugel Eis kostete 30 Pfennige, man bekam von zu Hause eine Mark und durfte die zehn Pfennige Wechselgeld behalten. Stärkere Erinnerungen habe ich an verschiedene Leihbüchereien. Bücher besiegten sogar meine Schüchternheit. Vielleicht schreib ich bei Gelegenheit mal was darüber.

  2. Wunderhübsch erzählt. Ich wusste gar nicht, dass du so ein Schleckmaul bist/warst.

    So einen Laden hatten wir leider nicht. Aber dafür einen mit einer Offene Milch für Milcheimer-Maschine.
    😊

    1. Milcheimer-Maschine hört sich auch ziemlich gut an. Ich denke mir Edelstahl, interessante Geräusche und blaue Flecken von baumelnden Milchkannen.
      Schleckmaul: immer gewesen. Aber heute mag ich die Süßigkeiten von damals, die es immer noch gibt, gar nicht mehr; entweder sind die Rezepte anders geworden, oder ich.

      1. Wahrscheinlich war früher weniger Chemie drin? 😉
        Und jetzt erinnere ich mich an deinen Lebkuchen im letzten Winter …
        Die Milcheimer am Fahrradlenker … und ja, blaue Flecken. Und machmal Milchverlustpannen durch Stürze undundund … ah, und ja: Edelstahl und Rauschen. Kindheit eben und ihre Klänge und Gerüche.

  3. Deine sehr genauen Erinnerungen lassen Frau Krugers Laden wiederauferstehen. Dass du dir mit den gemalten Bildern eine eigene Währung geschaffen hast, ist sehr lustig, auch wie die Währung dann scheiterte. Aber für dich als Kind muss es eine peinliche Erfahrung gewesen sein, immerhin mit der wichtigen Erkenntnis verknüpft, dasss manche Handlungen sich nicht beliebig oft wiederholen lassen, ohne an Bedeutung zu verlieren.
    Glückwunsch zum Kauf der Titanic und dankeschön, dass du dich am Erzählprojekt beteiligt hast und
    Beste Grüße,
    Jules

    1. Das ist ein mittlerweile gut belegter Effekt: daß die materielle Belohnung von freiwilligen Leistungen die Motivation “umleitet”; im Rückblick geben die Belohnten an, sie hätten’s für den Ertrag getan. Als ich das las, habe ich sehr genickt.
      Die Titanic ist für mich der endgültige Grund, einen Kiosk zu betreten; die Süßigkeiten sind es längst nicht mehr.
      Danke für dieses Projekt allererster Güte!

  4. Diese schöne Erzählung erinnert mich stark an meine Kindheitsferien im Berner Oberland. Auch da gab es im Gemischtwarenladen Bonbongläser. Und, es roch immer nach Hanf. Nach Seilerwaren.

    1. Gemischtwarenladen! Genau, das war das Wort, wenn es nicht “Frau Kruger” hieß. Den Geruch nach Hanf versuche ich mir vorzustellen, aber ich glaube, das gab es bei uns nicht; Bürsten aller Art gab es. Aber die rochen, soweit ich weiß, nicht.

  5. Ich weiß nicht, wann ich zuletzt einen derart nostalgischen Tante-Emma-Laden betreten habe, da ich von Supermärkten umzingelt bin. Emma könnte die Ladenmiete hier gar nicht aufbringen. Zu den jetzt feilgebotenen Riesentüten greife ich sehr selten, weil ich weiß, dass ich die dann sofort leer essen muss. Wer aber beschreibt meine Freude, als ich neulich ein kleines Zellophantütchen mit Lakritz entdeckte? Ich machte mich im voll besetzten Bus sofort darüber her. Prompt wies mich der Fahrer über Lautsprecher zurecht. Der Lärm mit der knisternden Tüte sei sofort einzustellen! Er irritiere ihn beim Fahren …

    1. Es gibt Leute, die reagieren extrem auf bestimmte Geräusche. Fingernägel auf Kreide, das verbreitetste Beispiel. Kaugeräusche, Tütenknistern, Telefontasten, solche Sachen. Vielleicht war der Busfahrer einer von denen …

  6. Ihre spritzige Darstellung ist so dermassen lebensecht, dass bei mir sofort Erinnerungsdeckel aufschnappten… Vielen Dank von weiter wech diesmal.

  7. LECKMUSCHELN! Das Wort lesen und den schrecklichen Moment fühlen, an dem die Zähne aus Versehen an die Muschel stoßen ist eins….uaaaaah! Die Gänsehaut ist wieder spürbar, und der Mund verzieht sich unvermittelt, um das Gefühl an den Zähnen wegzusaugen….
    Das war jetzt ein echtes Leseerlebnis! *g* – dankeschön!

    1. Danke! — Mir ist noch eingefallen, daß ich versucht habe, das Zuckerzeug durch Draufspringen aus der Muschel zu kriegen. Das war eine ziemlich steinige, sandige und zersplitterte Angelegenheit.

    2. Oh-ha! Das heißt aber immerhin, daß Du dieselben Leckmuscheln kanntest, die ich meine. Der Herr F. kennt die nämlich mit Plastikschale, hat er vorhin erzählt, und kann daher mein Wiedererkennungerlebnis garnicht nachvollziehen.
      Ich: NRW. Er: Bayern. Jahrgang – derselbe. Unterschiedliche Marken????

    3. Ja, genau. Der Herr F. kennt nämlich auch keine Weckmänner… aber dann weißt Du, welches Material ich meine. Wenn ich die Weckmannreste von der Pfeife abgeknabbert habe, was das auch immer so eine Gefahr, da mit den Zähnen – oh, ich verziehe schon wieder den Mund…. *gg*

  8. Das hast Du so bildhaft und schön erzählt, dass ich die Kittelschürze rascheln höre und Frau Krugers Tochter weinen sehe. Zuhause einzukaufen hätte mir auch keinen Spaß gemacht. Es ist doch gerade auch die Aufregung gewesen mit seinem Taschengeld den duftenden Laden zu betreten und sich von einem fremden Menschend das Gewünschte in eine Tüte packen zu lassen. Kunde sein zu können, obwohl man noch ein Kind war.

    Viel beklemmender lesen sich Deine Erinnerungen an den Osten, in dem alles grau war. Bei meinen wenigen Besuchen in Ostberlin, vor Mauerfall, habe ich das genau so empfunden. Bedrückend.

    1. Ja, das “Einkaufen” am Wohnzimmerschrank hatte was von einem schlechten Spiel, es ging nicht um Spaß, sondern um Pädagogik. Das mochte ich nie.
      Diese Bonbongläser waren eine sehr gewitzte Erfindung; das wäre quasi ewige Kundenbindung geworden, hätte es den Laden länger gegeben. (Natürlich gab es kein Happy End für einen Tante-Emma-Laden mit vielen Apfelsorten …)

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