Aus der Stadt hinaus aufs Land, eine Distanz, die ich viele Jahre auf der Autobahn im Schlaf gefunden habe, heute auf eigenen Füßen: auf ins rheinhessische Hügelland!
Am Mainzer Hauptbahnhof wartet der Tag, noch ganz verschlafen, Lockenwickler in den Wolken. Ich wende mich nach Westen. Kaum bin ich in Wanderstiefeln unterwegs, paßt mir das Fußwegkonzept der autogerechten Stadt nicht mehr: Drücken und warten soll ich? Sooo einen Bogen gehen?
Der Stadtteil Bretzenheim ist ein altes Dorf, fast zur Unkenntlichkeit verdichtet. In den Gärten und Höfen sind neuere Häuser gewachsen; die stehen jetzt wie Haifischzähne an engen, gewundenen Gäßchen. Hier verlaufe ich mich zum ersten und letzten Mal an diesem Tag.
Nach Marienborn hin zieht sich’s; Schallschutzwände, Umgehungsstraßen, Gewerbegebiete; Fußgänger sind hier nicht vorgesehen. Ich bin froh, den Ortsrand zu erreichen, tauche unter der Autobahn durch, und da ist es endlich: Rheinhessen. Sanfte Hügel, flurbereinigt und exakt beackert, Meeresboden mit Windrädern unter viel Himmel fürs Wetter.
Ich grinse über den Hechtsheimer Berg, den Katzen-, den Eselsberg auf meiner Karte, bis ich oben stehe: da stehe ich wie auf dem Dach der Welt und kann mein Ziel schon sehen. Gehen muß ich dann im Zickzack, denn alle Wege liegen in Gitternetzquadraten. Die direkten Verbindungen sind mit Autostraßen überbaut.
Brav und ergeben scheint das Land, offen bis zur Nacktheit. Der Mensch hat es nicht nur geprägt, er hat es in abertausenden Jahren glattgeschliffen, abgegriffen, ganz und gar bezwungen; es ist geduldig, fügsam wie ein Tier unterm Joch. Bäche laufen in Rinnen, Feld folgt auf Feld, jeder Baum ist registriert.
Ungezähmt sind nur die Dörfer: was sich vor vierzig Jahren noch in den schattigen Talfalten versteckte, quillt heute, verdoppelt und verdreifacht, über, wuchert die Sonnenhänge hoch. In Nieder-Olm habe ich viel zu viel Zeit, über die Ästhetik des Neubaugebiets nachzudenken. Meine Karte zeigt mir freies Feld, aber sie ist sechs Jahre alt — da wachsen heute Einfamilienfestungen mit Riesengaragen aus Gabionen-Sockeln.
Draußen ist es schöner. Die Kargheit der Hügel macht jeden Rübenhaufen zum Ereignis. Überraschend eine Mühle, feuchte Wiesen, Ried, knorrige Weiden: da ist es, als rege sich das müde Tier und erwidere den Blick.
Dann dröhnt auch schon wieder die Autobahn; es gibt kaum einen Fleck, wo man sie nicht hört. Sie durchschneidet die Landschaft tiefer, als jeder Fluß das könnte; einige Kilometer stapfe ich im Schlamm an dem brüllenden Band entlang, fluchend, bis ich einen Durchlaß finde.
Dafür dann bei Saulheim wieder durch die Felder, eine stille Bucht für Wein und Walnußbäume. Hier sammelt sich die Wärme, Raubvögel jagen Feldmäuse, und über dem Hügelkamm winkt und winkt und winkt ein Windrad.
Ich bin zufrieden. Ich bin der Stadt davongelaufen.
Die Kargheit und die Weite, wie mir das hier fehlt – dafür würde ich die Alpen mit Mann und Maus an die Österreicher verschenken.
Oh, das glaube ich. Auf Dauer ohne Himmel, das wär nix.
Ihre Schilderung, wie Sie zu Fuss aus der Stadt entfernen wollen, verleiht dem Begriff Fussgängerzone eine weitere Bedeutung, das ist des Fussgängers eigentliches Revier. Nicht Entfernungen wahrnehmend und sinnend durchwandern, sondern Einkaufsreviere, in denen die Lockstoffe für die niederen Sinne verströmt werden.
An den Ortsnamen bemerke ich, welchen Zickzack Sie gelaufen sind.
Ich habe einmal versucht, zu Fuss von Lummerland nach Darmstadt zu laufen. Ich habe in der Hälfte aufgegeben. Die alten, ziemlich direkten Wege mussten anderen Glaubensbekenntnissen weichen.
Frühnachmittäglichschöne Grüsse aus dem besinnlichen Bembelland
Haha, die Fußgängerzone und ihre Erweiterungen! Raus aus einer Stadt, das ist glaube ich leichter. Rein denke ich mir scheußlich. Ohne Auto jedenfalls.
“Andere Glaubensbekenntnisse” – schön gesagt, Herr Ärmel.
Feine Fotos. Weite Sicht, plattes Land, fast wie in Brandenburg und Meck-Pomm.
So platt ist es nicht; es ist sehr klein gehügelt. Brandenburg reicht ja bis zum Horizont ohne auch nur einen Hopser; Rheinhessen ist bloß baumlos. (Guten Spätburgunder Blanc de Noir wird es geben dieses Jahr, übrigens. Schon probiert.)
Je nun, das nördliche Brandenburg und Meck-Pomm sind auch nicht ganz so platt, da hat die Eiszeit wunderschöne gewellt-gehügelte (“gebügelte” macht die Rechtschreibkorrektur daraus, sie weiß halt nichts von “every noun can be verbed”) Landschaften hinterlassen.
Haha! Bügel sind doch auch schön.
Oh guten Morgen, lass Dir den Kaffee schmecken!
Nicht einmal der Niederrhein ist wirklich platt. Hier gibt es auch ein paar Hügel, geformt in der Eiszeit. Deine schönen Fotos mit dem Himmel bis zur Erde mag ich sehr. Raus aus der Stadt ist zur Zeit besonders empfehlenswert, will man dem Geruch und den Geräuschen der Weihnachtsmärkte entkommen.
Ich umgehe so was ja nach Kräften; aber langsam ist Weihnachten nicht mehr zu übersehen. Wenigstens die Temperaturen passen inzwischen.
Ein perfekter Tag füt diesen Ausflug. Wunderbare Bilder und wunderfeine Worte.
Danke Dir! Wir sind bei noch schönerem Wetter durchgefahren. .)
Bretzenheim, Bretzenheim, da wohnt doch auch eine Bloggerin … Die “Ästhetik des Neubaugebiets”? Muss eine Antithese sein. Überhaupt haben Sie viel auf sich genommen, um endlich der Stadt (und der Autobahn) zu entkommen. Diese Kilometer finde ich wirklich kraftraubend. Vielleicht freut man sich aber dann ja umso mehr, wenn man erst draußen ist. Draußen – ein schöner Klang, so besehen.
Ich frage mich ja öfter, an wie vielen Blogger-Vorgärten ich so vorbeikomme auf meinen Wanderungen. Ich würde einen großen Teil meiner Mitschreiber nicht erkennen, wenn sie persönlich am Zaun stünden.
Wirklich ganz wunderschön geschrieben! Die Haifischzähne, das wilde Tier im Joch und die Lockenwickler in den Wolken. Gelungene Metaphern, Beobachtungen, Bilder.
Oh, danke! (Es sind Bilder, in die ich mich auf langen Wegen am leichtesten verliebe.)
Das verstehe ich. Aber nicht JedeR kann sie so schön in Worte fassen, bzw. mit Worten zeichnen. Das beeindruckt mich immer wieder bei Dir.