Im November, wenn die Dunkelheit sich täglich mehr und mehr Augenblicke nimmt, kommt die Zeit des Erinnerns. Nicht umsonst drängen sich jetzt die Gedenktage: im Dunkeln sieht man die Geschichten deutlicher als die Gesichter derer, die sie erzählen.
Ich denke an die Novemberbesuche bei der Großmutter, wenn das Abendessen abgetragen war und Likör gelblich in den Schnörkelgläschen stand; die Welt zog sich von den Doppelfenstern in die Nacht zurück, und wir Kinder am Tischrand wurden unsichtbar.
Dann fielen die Erwachsenen in den fremden Dialekt, den sie mit uns nie sprachen und den auch die Mutter nicht beherrschte. Manches fragte ich sie am nächsten Tag, manches verstand ich erst viel später; das meiste habe ich wohl vergessen.
Sie erzählten von Paraden durch die Stadt, bei denen die Schulklassen an mehreren Stellen nacheinander zu jubeln hatten, damit es nach mehr Begeisterung aussah. Von dem Schulbuch, das meine Großmutter gleich nach dem Abschluß des Sohnes in den Ofen geworfen habe, trotz Goldschnitt. Dreie wären sie gewesen, die andern: alle Notabitur.
Am längsten beschäftigte mich die Geschichte von dem Wellensittich, der ihnen zugeflogen war. Der konnte sprechen und habe vernehmlich zwei Sätze gesagt: Ich bin der Hansi Sowieso aus der Soundsostraße, und: Heil Hitler, du Leckarsch, so daß sie ihn wieder fliegen lassen mußten, bei Minusgraden.
Da fragte ich dann doch, vom Rand des Tisches, und die fast verzweifelt klingende Antwort der Großmutter: Nu, sonst hätten sie uns mitgenommen, die konnte ich nicht begreifen. (Die Großmutter hatte immer Wellensittiche; Affenliebe, sagte meine Mutter dazu.) Den Hals hätten wir ihm umdrehen sollen, sagte der Vater, und ich nahm ihm das damals so übel wie später dann, daß er’s nicht getan hatte.
Die Erinnerung ist launisch. Ich weiß nicht mehr, wie die Geschichte ging; die Empörung über das mögliche Schicksal des Vogels übertönte den Rest. Was aus den Sowiesos aus der Soundsostraße geworden war, die ihr gelehriges Haustier freigelassen hatten? Ob der Hansi noch rechtzeitig erfroren war? Ich sichte und siebe die Erinnerungen, aber ich weiß es nicht; ich weiß nicht einmal, ob das je zur Sprache kam.
Ich erinnere mich an meine Kindererinnerung an diese Novembergeschichten. Nichts davon werde ich überprüfen können; was da, vielfach gefiltert, heute vor mir liegt, sind nur noch Schemen von Erinnerungen von Toten, so dünn, daß sie mir schon beim Aufschreiben zerfallen oder sich zu neuen Mustern legen, Bedeutung bekommen, die ihnen vielleicht gar nicht gehört.
… und immer der latente gedanke ‘hätte ich doch nur besser zugehört, mehr fragen gestellt.’
ja die erinnerung nur noch schemenhaft, aber immerhin …
danke liebe lakritze
Andererseits: wäre ich da schon eine ernstzunehmende Zuhörerin gewesen, hätten sie dann so viel erzählt? Oder hätten sie die Geschichten anders gefiltert? Die Fragen werden mehr, bis die Geschichten nur noch aus ihnen bestehen …
Solchen Geschichten höre ich gerne zu…
Danke. Ich glaube, ihr größtes Verdienst ist, daß man wieder mal ins Nachdenken kommt; vielleicht sind sie deshalb so oft ungebetene Gäste …
Wenn das nachdenken nicht ins grübeln übergeht, ist es hilfreich.
Die Geschichten, die erst mit Jahrzehnten Abstand Sinn ergeben. Und dann das Grübeln: Haben die das wirklich gesagt oder hat man das nur falsch verstanden? Aber es lebt niemand mehr, den man fragen könnte.
Ganz genau! Und was dann machen mit solchen Halbgeschichten?
(Was anderes ist, daß ich bei Ihnen drüben gar nicht kommentieren kann; das kenne ich schon von Blogspot. Schade.)
Das finde ich auch schade, aber das ist wohl ein altes Blogspot/Wordpress-Problem.
Ja, was macht man dann mit den Geschichten? An Novemberabenden hin und herwenden….
Diese Erinnerungen, die einen ungewollt anfallen, man könnte mit ihnen umgehen wie mit einem Schmerz: man empfängt sie als einen Boten und lässt sie gehen, wenn sie weiterzeihen wollen…
Abendlichbettwärtstrollendbuchgreifende Trostgrüsse aus dem stillen Bembelland (nach drei Tagen fastrundumdieuhr Einflugschneise)
Ja, so was; aufschreiben ist manchmal auch nicht verkehrt. Notfalls: erfahren und zugeben, daß sie sich nicht aufschreiben lassen.
Wünsche ruhigen Sonntag, schneisenfrei!
Naja, natürlich kann die auch aufschreiben. Ich habe das so verstanden, dass es unerwünschte Erinnerungen seien…
Abendlichvonderrheinwiesenwanderungvölligdurchgefrorene Grüsse aus dem heimeligen Bembelland
“so dünn, daß sie mir schon beim Aufschreiben zerfallen” ein sehr treffendes Bild!
So muß das gewesen sein für die europäischen Raubgräber, die Sarkophage knackten, um Pharaonen zu Staub werden zu sehen.
Hat mich beeindruckt …
Danke sehr fürs Hinlesen.