Lektüren

Ich sitze im Bus und lese in meinem Unterwegsbuch. Hinter mir ein Pärchen, Anfang 20, sehr verliebt; die beiden haben die Köpfe über einem Smartphonebildschirm zusammengesteckt und sind ins Gespräch vertieft.
Er: »Das zweite versteh ich nicht.«
Sie: »Eifert nicht? Ich verstehe das so, daß sie sich nicht aufregt … hat keinen Eifer oder so, also entweder ist sie da oder nicht.«
»Ah, ja, das kann sein …«
»Weiter: treibt nicht Mutwillen … hm.«
»Mutwillen? Das ist doch, wenn man etwas übertrieben will?«
»Dann wäre das: sie will nichts übertrieben … ja, genau, ist eben da oder nicht. — Sie bläht sich nicht, also, das ist klar. — Aber schau mal hier: sie duldet alles … Das finde ich nicht.«
»Nee, stimmt, man sollte sich nicht alles bieten lassen. Und was ist: sucht nicht das Ihre?«
»Ja … Eifersucht?«
»Keine Eifersucht, das würde passen … Das nächste da, das ist eine ziemlich gute Definition von Liebe …«
»Total schön, oder?«

»He, guck mal … Weißt du, woher das ist?«
»Nee –?«
»Das ist aus der Bibel!«
»Aus der Bibel? — Kraß!«
Die beiden stiegen an meiner Haltestelle aus, einander zugeneigt, unerschrocken, strahlend im Bewußtsein ihrer Liebe. Meine guten Wünsche würden sie lachend von sich weisen. Also wünsche ich ihnen, daß das noch lange so bleibt.

0 thoughts on “Lektüren

  1. Ha, wie köstlich! Die Liebe ist langmütig und freundlich…, die Liebe höret nimmer auf… Habe gerade nachgeschaut, es ist 1. Korinther – Kapitel 13
    Das Hohelied der Liebe, ich musste das im Konfirmandenunterricht komplett auswendig lernen und merke, dass ich noch Einiges aufsagen könnte, lach, “Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk. 10 Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören” – das hatte mich besonders beeindruckt, wobei mich bei auswendig Gelerntem meist gar nichts beeindruckte. Danke fürs Wiedergeben dieser lustigen Begegnung!

  2. Gut und aufmerksam belauscht und wunderbar entspannt wiedergegeben. So wurde die Indiskretion mit einer schönen Miniatur “gesühnt”. Wie leicht hätte sich die Lauscherin und Prosaistin beim späteren Schreiben über die Nicht-Bildung der Liebenden moralisch erheben können. Aber nein, das wäre zu platt gewesen, und so haben wir ein Stück Alltagswirklichkeit im Destillat vor uns, an dem jeder Leser für sich und hoffentlich vor-urteilsfrei seine Assoziationen knüpfen kann.
    Gruß, Uwe

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