Frau Amsels Plan ist simpel: Gehen wir doch von Darmstadt nach Bad Kreuznach! Zwei Tage, zwei Landschaften, zwei Bundesländer; der Herbst ist gerade so herrlich, wie wär’s mit morgen früh?
Solche Unternehmungen können vermutlich nur genau so gelingen – überfallartig. Ein paar Stündchen später, in aller Herrgottsfrühe, stapfen wir in Wolfskehlen durchs Gewerbegebiet (von Darmstadt bis hierher sind wir neun Kilometer mit dem Bus gefahren) und raus, Richtung Westen.
Frau Amsel hat schlaue Software auf dem Telefönchen, die soll uns lotsen. So ganz traue ich ihr nicht und verlange ein paarmal alternative Wege, aber: meist hat sie recht und kennt wirklich die kürzeste, die schönste Strecke, die mit der geringsten Steigung, den wenigsten Autos und dem besten Untergrund.
Zum Rhein durchs Ried ist es übersichtlich: zehn Kilometer flaches Ackerland, immer zwischen Feldern und unter einem morgenschönen Himmelszelt. Viel gibt es hier nicht. Einmal ist Graf Zeppelin hier abgestürzt; auf dem Denkmal steht freundlich: “Hier landete …” Der Damm am Rhein führt uns zum Fähranleger mit dem hübschen Namen Kornsand. Einsfuffzig kostet es nach Nierstein; auf dem Schild am Fährgasthaus steht: “Nicht irre werden!”, und das ist eigentlich immer ein guter Rat.
Nierstein lockt – wir sehen nur seine schmutzigen Ränder –, und bekommt einen Eintrag im Wanderplanbuch. Nach langem Trotten durch häßliches Neubaugebiet (ich hatte nicht auf das Telefönchen hören wollen …) dann endlich, was wir die ganze Zeit wollten: Rheinhessen. Reben, Äcker, rundgespülte Hügel. Mit Blick auf Schwabsburg picknicken wir das erste Mal.
Rheinhessen ist der Landstrich ohne großen Namen, der zu drei Vierteln aus Himmel besteht – und der will heute regnen, aber nur kurz. Die Wolken galoppieren grau vor Grau und formieren sich zu immer neuen Bildern. Am liebsten würde ich ihnen entgegenlaufen, aber der nasse Ackerboden hängt sich als Bleigewicht an die Sohlen und klebt uns an den Weg.
Selzen, Hahnheim, Udenheim – das Telefönchen lotst uns an allen Dörfern vorbei; ich habe allerdings den Verdacht, daß man in den meisten ohnehin keinen Kaffee bekäme. Das schadet nichts; wir leben bestens aus dem Rucksack, mit Zuschüssen vom Wegesrand. Zusammen haben wir zwei Kilo Essen mit, die tragen wir lieber inwendig. (Alles, was wir an Gewicht wegessen, ersetze ich durch Walnüsse. Dieses Jahr sind sie gut und überall.) Und wie dicht die Orte beisammen liegen! Mit dem Auto bekommt man hier ganz falsche Vorstellungen. Und überhaupt, wieso haben wir das alles früher nie gemacht? Es ist wunderbar, einen Fuß vor den anderen zu setzen und so voranzukommen.
Ein wenig eilig haben wir’s dann am Nachmittag doch – wir müssen unseren Schlafplatz erreichen. Liebe Freunde haben Ja gesagt auf die Frage: Können wir morgen in eurem Garten zelten?, und nach einer letzten Anstrengung unter der Autobahn durch kommen wir mit der Abenddämmerung in Saulheim an, längst nachtmürbe. Frau Amsel baut ihr Zelt auf, ein Wunder an Raum und Leichtigkeit.
Wir sind 32 Kilometer gegangen, ein bißchen beeindruckt davon, und schlafen wie Steine. Die Mücken machen sich über mich her, aber die wollen auch leben, und mich wird’s erst später jucken.