Der Asylzivi

Mit dem Abi in der Tasche hielt es H. nicht mehr daheim: zum Zivildienst zog er weg. In einer kleinen Stadt fernab aller Grenzen arbeitete er für eine Organisation, die sich um Flüchtlinge kümmerte. In diesem Zehntausend-Einwohner-Städtchen lebten ein paar dutzend Menschen aus den Krisengebieten der Erde, hierherverteilt durch Amtsentscheidungen; alle mit ungewisser Zukunft.
Ich war nun die Freundin vom Asylzivi. Wann immer mein Studium mich ließ, wohnte ich bei ihm unterm Dach eines Verwaltungsbaus. Manchmal ging ich mit ihm zur Arbeit.
H. hatte viel zu tun. Montags und mittwochs Deutschkurse (für Männer und Frauen getrennt). Dienstags Hausaufgabenhilfe. Café Asyl am Donnerstag. Vormittags Behördengänge in schwierigen Fällen (sie waren alle schwierig). Umzüge aus dem Übergangswohnheim in kleine Wohnungen im Stadtgebiet. War sonst mal nichts, Haushaltsauflösungen; er lud dann brauchbare Möbel, Hausrat und Kleidungsstücke in einen alten VW-Bus und brachte sie zur Verteilerstelle. Und einige Male Fahrten zum Flughafen, manchmal mitten in der Nacht. Von diesen Einsätzen kehrte er finster zurück; er redete nie darüber.
So neu wie für mich war das Ganze auch für die Kleinstädter. Immer wieder erklärte H. geduldig, daß es nicht Asylanten hieß, sondern Asylbewerber und daß es diesen Menschen nicht um Wohlstand ging, sondern ums nackte Überleben. Manchmal kam er mit geballten Fäusten heim, weil er nicht ankam gegen die Vorbehalte.
Allmählich bekamen die Gesichter für mich Namen. Und Geschichten. Ich trank hier mit Menschen Tee, die Folter überlebt hatten und Vergewaltigung. Menschen, deren Familie umgebracht worden war oder werweißwohin verschleppt. Traumatisierte, die nachts nicht schliefen und sich manchmal am hellen Tag unter einem Bett oder Tisch verkrochen. Einsame, traurige Menschen, die sich beim Einkaufen unter unfreundlichen Blicken duckten. Auf dem Papier: Geduldete. Wenn’s schlimm kam: Abzuschiebende.
Sie lernten guten Tag und auf Wiedersehen sagen, aber wie es ihnen ums Herz war, dafür kannten sie die Worte nicht. Ihre Familienangehörigen waren oft in anderen Städten untergebracht; sie warteten stumm auf den wöchentlichen Telefontermin. Und auf den Asylzivi. Der war freundlich, der hörte zu, und er half, Probleme des Alltags zu lösen. H.  brachte oft fremdländische Speisen mit nach Hause, die er von seinen Schützlingen zugesteckt bekam.
All die Geschichten! H. schrieb sie auf, anrührende Texte, die im Monatsblatt der Organisation veröffentlicht wurden. Und all die Menschen, die sich kümmerten, halfen, sich einsetzten, um den verängstigten Heimatlosen wieder so etwas wie ein würdiges Leben zu ermöglichen: die Ärztin B., die Hausfrau H. und viele andere, auch Ehrenamtliche. Eine Handvoll unter zehntausend.
Nach seinem Zivildienst zog H. weit weg, und er machte etwas völlig anderes. Was diese Zeit gebracht habe, stellte er nie in Frage. Er hatte gesehen: jedes Lächeln zählt, jede ausgestreckte Hand.
Menschlichkeit ist es, die uns zu Menschen macht.
 
 
 
 
 
 

0 thoughts on “Der Asylzivi

  1. dein text rührt mich an.
    vor einiger zeit arbeitete ich auch in einem zentrum für asylbewerberInnen. darum kann ich alles sehr gut nachempfinden. wie viele schlaflose nächte ich damals hatte, nachdem ich tagüber geschichten erzählt bekommen habe!
    viele berührungsängste habe ich damals loslassen können, zum glück.
    sie und die vorurteile blockieren den fluss der mitmenschlichkeit.
    danke für deinen artikel.

      1. ich lese grad einen schwedischen thriller über waffenhandel im sudan. einer der anfänge des flüchtlingsstroms. mir graut …
        den link guck ich mir später am rechner an.

      1. nein, den weißen tod meinte ich nicht (den film hab ich schon gesehen, das buch steht mir noch bevor und ich mag marklund und ihre figuren sehrsehr!).
        “mein” thriller war vom lars kepler-duo und hieß “paganinis fluch”. faszinierende geschichte, zwar langatmig und literarisch mittelmäßig – dennoch lesenswert.

    1. Hellersdorf ist leider überall, wenn ich mich recht erinnere, gab es auch im schönen Charlottenburg deutliche Proteste von Anwohnern, als ein Heim für Asylbewerber in ihrer Nähe eingerichtet werden sollte. Die Beweggründe –Ängste und Vorurteile – sind die gleichen gewesen wie bei den Hellersdorfern. Nur der braune Mob hat sich seinerzeit nicht so überpräsent gezeigt.

    2. Ich wünsche mir das ja auch nur aktuell für Hellersdorf und überall dorthin, wo es gebraucht wird. Die Mitte der gesellschaft kauft übrigens keine bereinigten Kinderbücher, sie wettert sehr dagegen, dass ihr das Recht darauf genommen werden soll, die Dinge – und andere Menschen – so zu benennen, wie es ihr passt. Sie möchte auf keinen Fall an ihrer scheinheilen Lindgrenwelt gerüttelt haben und auch vor allem nicht an deren Schöpferin und ihrer nicht allein emanzipatorischen sondern eben auch kolonialistischen Gedankenwelt. Wenn es Menschen verletzt mit einem bestimmten Wort bedacht zu werden, warum fällt es uns dann so schwer, das weiter nicht zu tun? Warum müssen wir das scheinheil nennen? Ich glaube nicht, dass die Verfechter der Kinderbuchbereinigungen oder der Umbenennung von Süßigkeiten oder des Sarottimaskottchens bei der Sprache stehen bleiben, denn in den meisten Fällen sind es Leute, die dem tagtäglichen Rassismus in unserem Land ausgesetzt sind.

  2. In der scheinheilen Welt der Schokoküsse gibt es das alles nicht. In/An der Realität hat sich fast überall nichts geändert – und die H.s dieser Welt werden vielfach belächelt oder beschimpft. Traurig –

  3. Schoener und wichtiger Beitrag! Ich fuerchte, das liegt in der Natur der Menschen. Hier in England steht Anti-Immigrations-Politik momentan leider auch ganz hoch im Kurs. Ist wohl ein Zeichen der Krise. Als ich vor zehn Jahren hierher kam, war das noch nicht so. Obwohl sich diese Diskussion hier nicht gegen Westeuropaeer richtet, hat man als Immigrant schon einen etwas anderen Blick auf die Debatte. Viele Gruesse aus London, Peggy

  4. Kein Wort zu viel und keins zu wenig. Genauso ist es. Du hast es hervorragend beschrieben. Ich lebe seit zwei Jahrzehnten in der sogenannten 3. Welt (wos doch eine 2. garnicht mehr gibt offiziell) und wenn ich dann in Deutschland die normalverteilten, verbissenen Gesichter sehe… Manchmal denke ich dann, dass diesen Menschen schon ein Lächeln lästige Arbeit ist oder gar Schmerzen bereitet.
    Schöne Grüße (noch) aus der Bembeltown

    1. Danke, Clara. Auch für Deinen Kommentar drüben bei meinem unsortierten Nicht-Pegida-Artikel. Immer, wenn man sich in Sicherheit wiegt: es ist ja weit weg, sollte man an Leute denken, die man kennt — bei Dir gleich in der Familie. Organisierter Haß kann niemals weit genug weg sein.

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