#Schattenklänge: Was sich gehört

Alles im Dorf hatte seine feste Ordnung, und umso fester, je mehr ihr die Grundlage verloren ging. Die Zeiten änderten sich: Nicht mehr jedes Bauernkind wurde Bauer; Äcker und Weinberge wurden verkauft, Neubaugebiete entstanden. Es zogen Fremde zu, sogar Evangelische. Mit denen hatte man nichts zu tun; innendrin im Dorf galten die alten Regeln noch. Da scharten sich die Gassen um die Kirche, samstags wurde gekehrt, und jeder wußte, wer wann zur Messe ging.

In diesem winzigen Kosmos zwischen Weinbergen – Kirche, Schule, Dorfplatz, Friedhof – gab es eine Gasse, in der man besser nicht wohnte, und da wohnten für kurze Zeit die E.s in einem Häuschen auf gammeligen Fundamenten, das aussah, als sei es im Kopfsteinpflaster versunken; aus der Haustür drangen Kindergeschrei und fremdartige Kochgerüche: die E.s waren Türken, bis dato die ersten und einzigen Ausländer im Ort, ein neues Haus im Neubaugebiet konnten die sich nicht leisten.

Sencan kam in meine Klasse. Sie muß älter gewesen sein, sie überragte uns alle um einen Kopf, aber ihr Deutsch war nicht gut, und so sollte sie ins dritte Schuljahr. Ich erinnere mich am besten an ihr Lächeln, das ihr Gesicht ganz erhellte, wenn sie mit Händen und Füßen erzählte.

Es nützte ihr nichts. Wir Kinder hatten nichts gegen sie, zunächst, aber die Art, wie die Lehrerin sie vorstellte, machte klar, daß hier etwas nicht stimmte. Bald war ein Teil der Klasse gegen sie; es dauerte eine Weile, bis sie das merkte. Es stellte sich heraus, daß sie genauso schnell weinte, wie sie lachte, und es gab viel, womit man sie zum Weinen bringen konnte: an ihren langen Haaren reißen, ihre abgetragenen Kleider verspotten, ihr Deutsch nachäffen.

Ich machte dabei nicht mit; soviel kann ich mir zugute halten. Ich mochte ihr Lächeln, und ich hatte das Gefühl, daß sie Schutz brauchte, aber so stark war ich nicht. Immerhin, ich unterhielt mich mit ihr (sie lernte schnell), und ich gehörte zu denen, denen sie beibrachte, daß ihr Name nicht “Senkan”, wie die Lehrerin sie hartnäckig nannte, sondern Sendschan ausgesprochen wird. Natürlich ging das nicht einfach so hin. Auch mir rief man “Türke!” hinterher, und wenn ich nicht ohnehin eher am Rand gestanden hätte, als Zugezogene und Evangelische, hätte mir das vermutlich mehr ausgemacht. Es dauerte sowieso nur ein paar Wochen.

Einmal kam Sencan mit Fieber in die Schule, da war sie zuhause ausgebüxt – aus dem Fenster geklettert, wie sie erklärte; sie hatte solche Sehnsucht gehabt. Einmal durfte sie im Unterricht erzählen, was das für wunderschöne rote Zeichnungen auf ihren Händen seien. Und einmal wurde sie aus dem Klassenzimmer geholt und kam nicht wieder, auch nicht am nächsten Tag und nicht am übernächsten, und ich habe nie erfahren, was aus ihr geworden ist.

Vergessen habe ich sie nicht. Nicht ihr Lächeln, nicht ihr lebhaftes Erzählen über alle Sprachgrenzen hinweg. Auch nicht vergessen ist der angewiderte Blick der Lehrerin, und wie sie vor sich hin murmelte: auch das noch; und nicht die schweigende Gruppe und die bösen Worte derer, die meistens ganz normale Kinder waren.

Aus dem krummen Haus in der dusteren Gasse war die Familie E. ausgezogen; bald wohnten da die T.s mit dem Sohn, der schon gesessen hatte; aber gottseidank, sagten die Leute im Ort, wenigstens Katholiken, Deutsche, wie es sich gehört.

 

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