Hotel des Fortschritts

Jeden Sommer ging die Fahrt nach Westen, »zu den Franzosen«. Pausenlose Ewigkeiten von Landstraßen; die Sonne knallte auf den Käfer (später: Golf, noch später: Passat), die Laune auf der Rückbank sank, wie die Temperaturen stiegen. Aber irgendwann war es geschafft, und wir erreichten Béton, ein 500-Seelen-Dorf nicht allzu weit von Paris.
Da waren wir Gäste beim großen Treffen der Familie V., das Jahr für Jahr im Hôtel du Progrès stattfand, dem Gasthaus mitten im Ort, an der einzigen befestigten Straße. Vier Generationen kamen hier zusammen, um den Geburtstag des alten Monsieur V. zu feiern.
Das Hôtel du Progrès war …

Schlaflied

Maikäfer flieg

dein Vater ist im Krieg

dein Mutter ist in Pommerland

Pommerland ist abgebrannt

Maikäfer flieg

Ich bin wahrscheinlich das letzte Kind dieser Republik, das allen Ernstes mit »Maikäfer flieg« in den Schlaf gesungen wurde. Sobald ich es konnte, wollte ich mehr wissen. Was sind Maikäfer? Wie groß sind die? Kann man die wirklich essen? Was heißt: dein Vater ist im Krieg? Was hat Papa da gemacht? Muß er da wieder hin? Und wo ist Pommerland? Warum ist das abgebrannt? Wie ist Mama da weggekommen?

Ich muß die Pest gewesen sein.

Die Eltern, überfordert von der Aufgabe, Weltgeschichte kindgerecht zu verabreichen, versuchten es mit Ausweichen (zwecklos), widerwilligen Andeutungen (Gift für Kinder mit Phantasie) und schließlich mit »Schlaf, Kindchen, schlaf« auf dieselbe Melodie. Übrig blieben Alpträume von einem verkohlten Landstrich, mit schwarzen Zahnstochern anstelle von Bäumen, sowie eine tiefsitzende, panikartige Furcht vor »Krieg«. Und meine eigene, korrigierte Variante des Schlaflieds:

Maikäfer, flieg!

Der Papa war im Krieg,

die Mama kommt aus Pommerland,

da ist sie nicht mit abgebrannt.

Maikäfer, flieg!

Besuch bei Muttern

Irgendwann kommt das Alter, in dem die Eltern schwierig werden. Damit meine ich nicht die Pubertät, sondern die Phase, in der das Mütterchen, frisch in Rente, sich ein Cabrio kauft (hat er mir günstiger gelassen!) und eben keine Wirbelsäulengymnastik macht (och, die hält jetzt schon so lange …).

Jeder Besuch endet mit Kopfschütteln, händeringenden Appellen an den Himmel, doch etwas Vernunft fallen zu lassen, und der trotzigen Bemerkung mütterlicherseits: Du kümmer dich mal um deine Angelegenheiten.

Andere Dinge nerven anders. Mit Betreten der Wohnung scheine ich plötzlich wieder drei Jahre alt zu sein — erstaunlich, wie viele Verkleinerungsformen es für meinen Namen gibt –, darf mir kein Glas Wasser selbst holen und den Tisch nicht abräumen: Laß mal, ich mach das nachher. Wozu hat mich meine Mutter zur Selbständigkeit erzogen, wenn sie mich jetzt nicht mal meine Jacke allein aufhängen läßt? Dabei komme ich besser an den Haken als sie, ich bin fünfzehn Zentimeter größer.

Über die Frage Ißt du auch ordentlich? haben wir uns inzwischen so oft gestritten, daß sie durch eine kommentarlose warme Mahlzeit ersetzt wurde. (Wir Geschwister schauen uns dann nur noch an und verdrehen die Augen. Was soll man auch sagen — sie meint es ja gut.)

Werde ich auch mal so?

Besuch bei Muttern. Oft mache ich das nicht, meinen (und ihren) Nerven zuliebe. Verwandte, so heißt es treffend, kann man sich nicht aussuchen, mit denen muß man leben. Und zwar um so unerbittlicher, je mehr man ihnen früher einmal selbst Stirnrunzeln bis Kopfzerbrechen bereitet hat.

Andererseits gibt es auch Lichtblicke: Kurz nach dem Cabrio hat sich meine Mutter ihre erste BahnCard angeschafft, für die weiten Strecken.

Eine Sorge weniger.

Große und kleine Schlachten

Qype-Beitrag zum Völkerschlachtdenkmal, Prager Straße, 04299 Leipzig; Bewertung: *** (von 5)

Das Völkerschlachtdenkmal und ich, ich und das Völkerschlachtdenkmal… Einmal im Jahr mußte ich hin.

Die DDR hatte noch ein paar Jährchen vor sich, ich fast einen halben Meter Wachstum. Die Luft der Stadt roch nach Kohlekraftwerk, und dazu paßte das Schwarzgrau des Steins. In meiner Vorstellung war es das Denkmal, von dem der Geruch ausging und sich über ganz Leipzig legte, bis in die Wohnstuben hinein.

Nach dem Entenfüttern strebten meine Tante und ich strammen Schrittes über die Wiesen dem Monument zu, ich im blauen Anorak, meine Tante mit Schirm und Mantel.

Wie eine plumpe Schachfigur hockt das Ding auf dem flachen Grund; schnell wird es groß und größer. Hinter dem frostigen Wasserbecken gibt es einen Eingang, der nicht einlädt. Rein mußte man trotzdem. Auch wenn es drinnen nicht viel wärmer war.

Stein auf Stein, zu groß für richtige Erinnerungen; höchstens waren die geschlossenen Augen der gigantischen grauen Krieger für Alpträume gut. Einmal hatte sich ein russischer Chor im Rund versammelt, um den minutenlangen Nachhall des Inneren für ein Konzert zu nutzen. Nun, es hat gehallt, und ich hatte hinterher Fieber.

De Völgorschlochd. Die hat man mir oft erläutert, und ich habe sie immer wieder gründlich vergessen. Nur diese eine dumme Anekdote blieb hängen, die von dem amerikanischen Touristen: Dem fällt zu allen volkseigenen Leipziger Sehenswürdigkeiten nur ein, tjaha, in Amerika gibt es das aber besser, größerer, schnellerweiterhöher. Als er nun mit seinem Stadtführer am Völkerschlachtdenkmal vorbeikommt, fragt er völlig hingerissen: That’s marvellous! Was ist das? Woraufhin der Guide die Achseln zuckt: Keine Ahnung, stand gestern noch nüsch da.

Neben diesem Witz ruht das Völkerschlachtdenkmal in meinem Gedächtnis, in der Abteilung für Nutzloses. Wer weiß, vielleicht schleppe ich ja dermaleinst meine Nichte dorthin. Falls sie mich ärgern sollte.