Bestens sortiert

Mitten in der Stadt, in einer der kleinen Seitenstraßen, haben die M.s ihr Geschäft für Geschirr und Tischkultur. Dort steht im Regal hinter der Kasse ein hölzerner Karteikartenkasten, und da bin ich drin. Wie mein Geschirr heißt, was ich für Gläser habe, wie groß meine Töpfe sind: das steht in der schönen, steilen Handschrift des Chefs auf mittlerweile mehreren Karteikarten. Komme ich zu M.s und brauche Ersatz oder etwas Neues, genügt ein Blick unter Schwarz, um zu gewährleisten, daß ich keinen Fehlkauf tätige.

Haben meine Schalen nun zehn oder zwölf Zentimeter Durchmesser? Wie hieß noch gleich das Besteck, seit acht Jahren in Gebrauch? Und welche Firma macht diese wunderbaren Vorratsdosen? Bei M.s ist alles notiert, da kann ich ganz unvorbereitet in den Laden kommen. Und mit meinen Daten wird kein Schindluder getrieben; das würden die M.s niemals tun.

Einmal gab es einen Anruf: mein Alltagsgeschirr wird aus dem Programm genommen, für Ersatz die allerletzte Möglichkeit … Und ein anderer Anruf freute mich fast noch mehr: eine Kundin wolle wissen, wie sich mein Wasserkesselmodell im Alltag macht; ob ich kurz was dazu sagen könnte?

Die M.s zählen zu den letzten ihrer Art. Sie verkaufen nicht einfach Teller und Töpfe. In ihrem Sortiment herrscht Qualität, nicht Mode. Und wenn eine Kartei-Kundin etwa von Problemen mit einer Pfanne berichtet, dann geben sie das an den Hersteller weiter, damit die nächsten Pfannen besser werden.

Die Zulieferer machen keinen Hehl daraus, daß die M.s kleine Fische sind. Man merkt es an absurden Mindestbestellmengen und langen, sehr langen Lieferzeiten. Und dann gibt es Kunden, die sich stundenlang von M.s beraten lassen – und dann drei Euro billiger im Internet bestellen; Sand auf sie und kleine Steinchen. Da tröstet es auch nicht, daß die nicht in die Kartei kommen.

Einmal stand ich mit Porzellan in ungewöhnlichen Farben an der Kasse, da meinte Frau M., das sei aber mutig. Neinnein — nicht für mich, für die Tante sei das. Ein Geschenk. Seitdem gibt es eine neue Karteikarte: L. Schwarz (Tante). Damit ich künftig nichts doppelt verschenke.

Kornblumengraus

In Hessen ist Ebbelwoi. Ebbelwoi gibt’s in Bembeln, en Fünfer mit em Sprudel oder eben auch ohne, und Bembel finden sich in Traditionsgasthäusern, hinter Fachwerk und unter holzvertäfelten Decken. Wir also rein in den Goldenen Bock.
Klar wollen wir uns an die Theke setzen, ist man nicht so allein; Sauwetter und späte Stunde, Gastraum weitgehend leergefegt, außer uns nur noch ein Tisch mit größerer Runde.
Drei Saure! Hier wird nichts beschönigt. Der erste Schluck …

Orchester im Gehäus’

Herrreinspaziert, hereinspaziert! Kommen Sie, sehen Sie, staunen Sie: den tollkühnen Schwertschlucker! die Dame ohne Unterleib! den Wassermann, halb Mensch, halb Fisch! Karussell für die Kleinen, für die Großen Tanz! — Immer dabei: die Kirmesorgel mit den neuesten Gassenhauern, und die Kinder wollen alle gern die niedlichen Puppen mit ihren Trommeln und Glöckchen anschauen, anfassen, mit nach Hause nehmen …

So kam die Musik zu den Leuten, von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg. Mit dem Rundfunk und der Verbreitung von Plattenspielgeräten wurde es einfacher, Musik ganz nach Geschmack individuell zusammenzustellen; bald galten die schrankwandgroßen, nur gerade noch mobilen Apparate als überholt. Man tauschte sie aus gegen handlichere und vielseitigere moderne Musikanlagen. Pfeifen und Flöten, Schellen und Trommeln, ganze Orchester verstaubten, oder sie wärmten ein paar Tage lang die Stube.

In den letzten Jahrzehnten hat man wieder hervorgeholt, was hervorzuholen war, restauriert (eine fast vergessene Kunst) und gesammelt. Es gibt in Deutschland inzwischen einige Gesellschaften für mechanische Musik, zum Beispiel die Gesellschaft für Selbstspielende Musikinstrumente oder die Drehorgelfreunde in Berlin (Homepage mit hinreißenden Tips zur Pflege und Lagerung der Instrumente); und hin und wieder sieht man die altehrwürdigen Maschinen heute auch außerhalb von Museen, wenn sie auf nostalgischen Jahrmärkten ihren Dienst verrichten.

Die ersten Musikautomaten stammen aus Frankreich, aus Deutschland und später aus den Niederlanden; die Namen der Hersteller stehen meist gut sichtbar auf der Fassade: Gavioli, Limonaire, Ruth, Bruder, Perlee, van der Wouden. Die niederländischen Jahrmarktsorgeln — die Draaiorgels — haben aber auch jede noch einen eigenen Namen: de Hartenvrouw, de Arabier, de Angelina, het Blauwtje, de Rosalinda. Sie waren so beliebt, daß von vielen von ihnen sogar Schallplattenaufnahmen kursierten; dank YouTube kommen sie auch heute wieder jede für sich zu Ehren.

Heute spielen sie nicht nur alte Musik, sondern auch neue Lieder. Notenmaterial gibt es meterweise: in einem aufwendigen Verfahren werden die einzelnen Stimmen in Kartonbänder gestanzt und steuern über bewegliche Zapfen den Luftfluß in die einzelnen Pfeifen des Instruments. Wenn das (inzwischen meist motorisierte) Drehrad in Schwung gebracht wird und Luft aus den Blasebälgen durch das kunstvolle System von Pfeifen und Perkussionsinstrumenten strömt, dann tönt aus dem gigantischen, bunt verzierten Kasten unzweifelhaft Musik, die in Beine zu gehen und Herzen zu rühren vermag.

Der folgende Film aus dem Jahr 1971 (niederländisch ohne Untertitel) zeigt die letzten Amsterdamer Draaiorgel-Spieler. Sie protestieren gegen die moderne Verkehrsordnung der Stadt.

Inzwischen scheint es den verbliebenen niederländischen Draaiorgel-Spielern wieder verhältnismäßig gut zu gehen — in der Ecke für Folklore, Nostalgie und Kurioses.

Ich habe in vier Wochen 30 Pfd. zugenommen

Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft; bei diesem bin ich mir nicht so sicher. Manche sind entzückt, andere könnten es in den falschen Hals bekommen. Für »nachträglich zu Weihnachten« bietet es sich geradezu an:

eta-tragol
... Schokolade?

Ich weiß nicht, welches Gewicht man braucht, um Spaß daran zu haben — jedenfalls mag ich dieses Frühstücksbrettchen sehr. Es ist aus haltbarem Melamin gemacht, bei der Darmstädter Goldschmiedin Kim Ehrentraut zu beziehen und kostet etwa 20 Euro. (Die Anzeige hat sie in einem Modeheft der 20er Jahre gefunden.)

Am liebsten serviere ich darauf Pralinen.

Starck gemæsziget Predig ueber die recht Schreybung

Nachdem ich nun ein paarmal gefragt worden bin, warum ich mich der neuen Schreibung verweigere, möchte ich die Frage gern ein für allemal beantworten: Weil es mir gefällt.

Beruflich muß ich sie anwenden; ich lese korrektur. Entsprechend habe ich mich ausführlich mit ihr befaßt, dieser neuen Schreibung, und bin zu dem Schluß gekommen: Macht nichts besser und vieles schlimmer. Mag ich nicht. Aber ich werde sie auch nicht mehr ändern — also kann sie mir privat den Buckel runterrutschen, da schreibe ich so, wie ich es gelernt habe.

Ach, wo anfangen, wo aufhören? Hier nur ein paar meiner wüstesten Ärgernisse:

Fortsetzung der Predig … …

Es war einmal ein Café …

Qype-Beitrag zu Café Lehmkühler, Kreuzstraße 46, 55543 Bad Kreuznach; Bewertung: *** (von 5)
Vorab: Das Café Lehmkühler, so wie ich es beschreibe, gibt es nicht mehr. Den Nachfolger der Hartmanns habe ich nie besucht; die drei Punkte sind schamlos geraten. Das alte Lehmi hingegen hätte zwanzig Punkte verdient.

Das Café Lehmkühler hat mich für Durchschnittscafés verdorben. Über viele Jahre war es eine Perle in der spröden kleinen Stadt Bad Kreuznach, ein emsiges, schrulliges Paradies der Konditorkunst.

Schon wie es einen empfing: heimelige Enge, Kaffeeduft und das Zischen des Sahnebereiters. Moosgrüner Teppichboden, darauf zusammengedrängt die schönstmöglich abgewetzte Wiener Kaffeehauseinrichtung. Überall, wo es schicklich und zierend war, das geschliffene Kristall von Kronleuchtern und Wandlämpchen. An den Wänden großzügig geblümte Tapeten, cremefarben und pastell. Regelmäßig wurde hier neu tapeziert, nie aber fehlten zwei musizierende Barockengel und eine sonnenförmige Uhr, die zwar golden glänzte, die Uhrzeit jedoch meist für sich behielt. Und ein Foto der schwedischen Königin.

Frau Hartmann nämlich war Schwedin. Rund und eindrucksvoll, stets makellos gekleidet, mit Grübchen, blondem Haarnest und sonnig lächelndem Akzent präsidierte sie über eine Tortentheke, die in meiner Erinnerung ihresgleichen sucht. Die Lehmkühler-Torten waren handgemacht vom mürben, duftigen Boden bis zur marmorierten Glasur, und sie waren unglaublich raffiniert — ach, die Birnen-Milchreistorte mit dem Johannisbeerzucker-Rand!

Immer wenn die Theke geplündert schien, wenn die wartenden Kunden die Verzweiflung packte, kamen neue Köstlichkeiten aus dem Keller. Dort hatte Herr Hartmann seine Backstube. Manchmal erschien er selbst, mehlbestäubt und etwas eckig, im Verkaufsraum. Vorher soll er Gärtner gewesen sein — ob das stimmt, weiß ich nicht; jedenfalls gab es ein sorgfältig gepflegtes Blumenfenster hinten im Caféraum, dort, wo die Zimmerdecke aus Milchglasscheiben bestand.

Lange Zeit war das Café Treffpunkt der Kreuznacher Künstlerszene, die hier gelegentlich auch Bilder ausstellte. Bis die Preise zu hoch wurden (unerhörte drei Mark zwanzig für den Kakao!); da zogen die Künstler weiter, und ihre Plätze wurden nahtlos von anderen Gästen übernommen.

Wer im beständigen Kommen und Gehen einen Platz ergattert hatte, der konnte dort ausatmen und für die nächsten halben oder ganzen Stunden eins mit dem Sitzkissen werden. Nie wurde gedrängelt, und Stammgäste fanden häufig niedliche kleine Gebäckstücke auf ihren Untertassen. Es gab viele Stammgäste. Das lag auch an Simone, der guten Seele des Hauses. Niemals war das papierne Spitzendeckchen unter der Tasse kaffeegetränkt, wenn Simone ein Tablett brachte. Sie trug, wie alle Angestellten, die rosa berüschte Uniform des Betriebs, die aber ihrer Autorität keinen Abbruch tat.

Sommers saß man draußen zum Leutegucken, geborgen unter der gestreiften Markise und hinter einem weiß lackierten Schnörkelzaun, komplett mit lila und rosa Petunienkästen. In der Weihnachtszeit stand im Schaufenster ein Lebkuchentraumhaus, jedes Jahr mit neuen unglaublichen Details. Und wenn die schlimmen Kreuznacher Hochwasser die ganze Innenstadt überspült hatten — das Lehmi war wieder geöffnet, ehe noch der Teppich ganz getrocknet war.

Leider haben die Hartmanns vor einigen Jahren ihr Geschäft aufgegeben. Sie sollen nach Schweden gezogen sein — ich wünsche ihnen alles, alles Gute für den Ruhestand. Und so schüttele ich immer mal wieder meine Erinnerungen auf wie eine Schneekugel und schaue dann zu, wie das schöne Bild allmählich wieder zugedeckt wird. Von blütenweißem Staubzucker.

Blühende Landschaften

Qype-Beitrag zu Deutsch-Französischer Garten, Im Deutschmühltal, 66117 Saarbrücken; Bewertung: **** (von 5)

Mit der 126 bis zum Deutschmühlental (Haltestelle DFG): Wenn man jetzt lange genug geradeaus läuft, kommt man erst zum Friedhof und dann nach Frankreich. Gleich links geht es aber durch den Beton-und-Verbundpflaster-Eingang in den Deutsch-Französischen Garten hinein. Betonblumenkübel, pilzförmige Straßenlampen, ein artig gefaßter Teich mit Tretbootverleih, um den ein Rundweg führt und eine Kleinbahnlinie; hier und da Pavillons und Ruhebänke. Bäume stehen gesittet an knallfarbigen Blumenbeeten, und der Blick schweift in überschaubare Weite.

Der erste Gedanke: Hier war ich schon mal. Aber war nicht alles viel größer? Diese Laternenmasten, diese Geländer waren in den Siebzigern schon alt, als ihr Anstrich in rostigen Blasen abblätterte, unwiderstehlich für Kinderfinger. Eine kleine Seilbahn gibt es, eine Wasserorgel, ein Panorama — alles im letzten Jahrzehnt liebevoll wieder hergerichtet, Kulisse für eine Zeitreise.

Zwischen 1870 und 1945 lagen Deutschland und Frankreich hier immer wieder im Krieg; ein Soldatenfriedhof und Bunkeranlagen an der Hügelflanke zeugen davon. Als Friedenszeichen ließen die beiden Regierungen das Gelände gemeinsam gestalten, für die deutsch-französische Gartenschau 1960, mit Tulpenfeldern, Geranien, Fleißigen Lieschen und Minigolf für brave Kinder.

Man kann sie sich vorstellen, die sonntäglich herausgeputzten Familien beim Spaziergang, großrädrige Kinderwagen, Mädchen mit Schürzen und Jungs, die Scheitel mit Wasser gebändigt. Ein bißchen mehr Phantasie, und zwischen den blühenden Büschen verschwinden Captain Kirk und Mr. Spock, Tricorder in der Hand.