Schöne Aussichten

Qype-Beitrag zum Lutherischen Kirchhof, 35037 Marburg; Bewertung: ***** (von 5)

Marburg macht es Reisenden nicht leicht: Das Schloß hockt ganz oben auf seinem Berg, und die Altstadt schmiegt sich an die steilen Hänge drumherum — wer was davon sehen will, muß Treppen steigen und viel krummes Kopfsteinpflaster treten. Belohnt wird die Mühe mit märchenhaften Perspektiven und Futter fürs Fotoalbum.

mr-daecher1Auf halber Höhe des Schloßberges liegt die Lutherische Pfarrkirche und davor der Lutherische Kirchhof, mit einer breiten Mauer abgeschlossen. Was früher letzte Ruhestätte für Pfarrkinder der Marienkirche war, ist heute ein begehrter Parkplatz im Oberstadtbereich und bietet dem Wanderer Möglichkeit zur nicht gar so endgültigen Rast.

Die gotische Pfarrkirche aus dem 11. Jahrhundert wirkt unerwartet groß in Marburgs sonstiger Enge. Hier gibt es samstagabends um halb Sieben die “Stunde der Orgel”, ein kostenloses Orgelkonzert mit oft überraschendem Programm. (Um Spende wird gebeten.)

Mein Lieblingsplatz befindet sich jedoch draußen, vor der Kirche, unter den kräftigen Lindenbäumen. Hier laden Bänke zum Ausruhen ein, aber erst wenn man sich auf die Friedhofsmauer setzt (oder sich meinethalben daran festhält — direkt hinter der Mauer geht’s steil sechs, acht Meter in die Tiefe), hat man den Ausblick über die halbe Stadt.

Das Tal erstreckt sich bis zu den begrenzenden Lahnbergen. Die jüngeren und jüngsten Stadtteile Marburgs beginnen gleich am Fuße des Schloßbergs; bis ins 18. Jahrhundert war Marburg noch nicht viel mehr. Seither sind die Gründerzeitviertel dazugekommen, die Plattenbauten des Richtsbergs, die Marburger Einkaufs-Center mit ihren Parkhäusern und die Stadtautobahn, deren Rauschen bis hier dringt.

Mein Liebstes sind die Dächer der Oberstadt — vielfach durchbrochen von Giebeln, Erkern und Türmchen, sind sie kunstvoll in Ziegeln und Schiefer gedeckt und zeichnen mit dem Fachwerk abstrakte Bilder.

Zu jeder Tages- und Jahreszeit hat der Blick seinen Reiz, bei Sonne, Regen oder Schnee, aber am schönsten finde ich hier die Sommer, wenn spät und zögernd der Tag sich davonmacht und in der Dämmerung immer mehr Fenster aufleuchten. Dann kann man bestens mit einer Kerze und einer Flasche Wein auf der Mauer sitzen und den Abend feiern.

Klar, der Blick vom Schloß oben, von der efeubewachsenen Schloßmauer, ist spektakulärer, weiter und weiter weg von der Welt — aber ich habe meine halbe Höhe schätzen und lieben gelernt. Und: Es gibt einen Lieblingsplatz im Lieblingsplatz, aber den verrate ich nicht — den kennen nur Oberstadtbewohner, Schwindelfreie, die Vögel und die Stadtverwaltung.

Alte Liebe

Qype-Beitrag zu Friedhof am Barfüßertor, Barfüßerstraße, 35037 Marburg; Bewertung: ****(von 5)

Hier ruht in Gott Carl Lametsch, geboren den 11ten April 1813, gestorben den 24ten December 1837. Lange hat er nicht gelebt. Sein Grab liegt nun bald zwei Jahrhunderte am Hang des Marburger Schloßberges, auf dem Alten Friedhof an der Barfüßerstraße, und immer noch bleiben Menschen davor stehen, lesen die Inschrift und denken: Ach Gott, vierundzwanzig…

Der Friedhof, im 16. Jahrhundert vor den damaligen Toren der Stadt angelegt, nahm über 300 Jahre lang ihre Toten auf. Ein kleiner grüner Fleck am Berghang ist er heute, von einer hohen Mauer umfriedet, mit einem geteerten Rundweg und zwei Bänken zum Ausruhen.

Kühl und angenehm ist es hier an heißen Tagen. In den Büschen an der Mauer nisten Singvögel. Zweimal im Jahr wird gemäht. Zwischen den hohen alten Bäumen stehen vereinzelte Grabsteine, die Inschriften vom Regen ausgewaschen, altes Deutsch und Lateinisch gleichermaßen. Barocke Lebensbeschreibungen gibt es da und klassizistische geborstene Säulen, kunstvolle Steinmetzarbeiten und schlichte schwarze Gußeisenkreuze.

Eines davon wurde für Carl Lametsch aufgestellt, von seinen liebenden Eltern. Von einem Mädchen, einer Frau gar ist nicht die Rede … Er hatte ja nicht viel Zeit.

Ich denke über ihn nach, wenn ich an seinem Grab vorübergehe auf dem Weg in die Oberstadt, und über mich und die Dinge, die nie sein werden. Und dann muß ich lächeln, wenn ich die Blumen sehe, die manchmal hier liegen.

Dem Tod ins Auge

Qype-Beitrag zu Museum anatomicum, Robert-Koch-Straße 6 (Dachgeschoß), 35032 Marburg; Wertung: ***** (von 5)

Daß selbst langjährige Marburger die medizinhistorische Sammlung nicht kennen, liegt sicher auch an ihren Öffnungszeiten. Es erfordert Planung, am ersten Samstag eines Monats den Seiteneingang des Instituts für Zytobiologie zu finden, der, einige knarzende Treppen hoch, ins Museum anatomicum führt. Natürlich sind eingelegte Embryos und freipräparierte Nervenbahnen auch nicht jedermanns Sache am frühen Morgen. Und manche haben von vornherein keinerlei Interesse daran, dem Tod ins Auge zu blicken. Nun, hier sei für die fanatischen Langschläfer und Samstagsbruncher festgehalten, was ihnen entgeht.

Medizinische Lehrmittel und Kuriositäten aller Art warten hier im Dämmer ihrer Vitrinen aus dunklem Holz. Bilder und Wachsnachbildungen von Geschwüren und Krankheitszeichen, histologische Schnitte; eine umfangreiche Sammlung freipräparierter Gehörknöchelchen. Schädel, geöffnet oder noch intakt. Skelette hängen wie in einer Garderobe in der Reihe — vergleichende Anatomie. Runzlige Embryos, manche ohne Kopf oder mit zweien, schweben in großen Glasbehältern. Hände, Augen, Nerven, Herzen… (Auch sein eigenes Herz hat der Begründer der Sammlung hier gelassen, in einem Silberbehälter.)

Marburg wäre nicht Marburg, gäbe es nicht zu dem ein oder anderen Ausstellungsstück eine schauerliche Legende: Da ist das Riesenskelett in einem eigens dafür angefertigten Schrank mit gläserner Tür. Das war der Lange Anton, der um 1650 einem Fürsten gedient haben soll; er maß zwei Meter vierundvierzig. Er litt an einem Hypophysentumor, der ihn immer weiter wachsen ließ; man sieht die Knochenwucherungen an seinen Gelenken, die sicher schmerzhaft waren. Sein Gehstock lehnt neben dem gewaltigen Knochengerüst. — Oder die schreckliche Geschichte von der buckligen Marburger Magd, die, schwanger von einem Medizinstudenten, sich nicht anders zu helfen wußte, als in die Lahn zu gehen. Wie muß der junge Mann erbleicht sein, als er sie am Morgen darauf in der Anatomie auf dem Tisch fand … Der Körper wurde so präpariert, daß man zwischen beiden Körperhälften stehen und den Querschnitt betrachten kann; auch das ungeborene Kind ist noch zu sehen.

Selbstmörder, Kranke ohne Angehörige, Verbrecher, die Ausgestoßenen der Gesellschaft haben hier eine Art von ewigem Leben gefunden. Jahrhundertelang dienten sie als Lehrmittel im Studium der Heilkunst.

Begründer der Sammlung war Christian Heinrich Bünger (1782–1842), als Präparator ein Meister seines Fachs. Ein großer Teil der säuberlich freigelegten und nach allen Regeln der Kunst konservierten Gewebeproben stammt von ihm. Die heutige Bedeutung der Sammlung ist vor allem historisch; es gibt kaum eine ältere in Deutschland. Die ältesten Exponate stammen aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, die jüngsten aus den 1920er Jahren.

Das Museum ist nur geführt zu besuchen. Zwei Euro kostet das pro Person, und dafür folgt man einer Studentin oder einem Studenten durch die Räume und bekommt alles erklärt. Das ist sicher gut so — so bleibt man auf dem Boden der Tatsachen und verliert sich nicht zwischen den filigranen Nervenbahnen eines Halses, in einem Blick aus halbgeschlossenen Augen hinter Glas…

Der Weg nach draußen ist vielleicht eine Erlösung, auf jeden Fall ein Rücksturz durch die Zeit. Die Heiterkeit, die man mit auf die Straße und ins nächste Café nimmt, hat wenig mit Witz zu tun — sie kommt aus dem tiefen Gefühl der eigenen Lebendigkeit.