Im Konsum (rauschfrei)

 
Als ich klein war, fuhren wir einmal im Jahr nach drüben, eine Winterreise, die ich nicht mochte; es war dunkel, kalt und anstrengend in der Stadt im Osten. In meiner Erinnerung ist alles grau, die Häuser, die kahlen Bäume, die Autos, sogar der Himmel, und die ganze Stadt riecht nach Braunkohlerauch.

Mit der Tante ging ich einkaufen. Wir hatten einzwei Beutel mit leeren Gläsern und Papier dabei, die brachten wir zu einer Sammelstelle am Straßenrand. Dann ging’s in den Konsum, betont auf der ersten Silbe. Im Konsum gab es alles, was es gerade gab. Auch das war grau; einfarbige Schachteln und Tüten und Etiketten auf Gläsern und Flaschen. Die Regale waren oft nur halb gefüllt. Alles hieß anders. An der Fleischtheke, in der kaum was lag, standen wir an; einmal bekam die Tante ein Päckchen von unter der Ladentheke. Manchmal wurden Stimmen gesenkt, dann hieß es: das Brot ist heute nicht gut … Pilze haben wir nicht mehr lang … Warum ist das Brot nicht gut?, bekam ich später erklärt: Das ist aus unreifem Getreide, das wird sofort schimmlig. Warum? Planwirtschaft. Überhaupt, meine Fragen: Wieso gibt es hier so wenig? Wieso sind die Erbsen so grau?, Antworten bekam ich selten, aber ich spürte die Verlegenheit der Verwandten.

Ich wußte, daß wir einmal im Jahr ein großes Paket packten. Da hinein kamen Seife, Kaffee, Damenstrumpfhosen, Konservenananas, Schokolade und Strickzeitschriften (“die von hier sind zum Davonlaufen”, sagte die Tante); im Gegenzug bekamen wir Bücher, Noten und Musikinstrumente, Dresdner Stollen, Schnitzarbeiten, Uhren, meist russisches Fabrikat. Manche Sachen kamen nie an (und wieder gesenkte Stimmen).

Vieles verstand ich nicht; etwa, wieso wir Kontakt vermieden, wieso ich die üblichen Fragen: na, wer bist du denn, wo kommst du her, wie gefällt es dir hier nicht beantworten sollte. “Die ist auch von der Sicherheit”, hieß es höchstens mal in den eigenen vier Wänden über eine, die wir getroffen hatten. Fragte ich nach, schauten die Erwachsenen sich gegenseitig an und zuckten mit den Schultern.

Meine Erinnerungen ans Einkaufen im Osten sind Erinnerungen an Bedrückung. Immer war Thema, was es nicht gab oder was von unverschämt schlechter Qualität sei, “nicht so wie bei euch”. Scham, Neid, ein grundlegendes Gefühl von Ungerechtigkeit, aber auch Ins-Unrecht-gesetzt-Sein, denn was konnte ich dafür, daß es hier so ist?

Heute denke ich: dieses Glas-Sammelsystem, das hätte man bundesweit etablieren sollen, diese ganze Bedachtsamkeit. Und: weniger Schreiendes, weniger Plastik, weniger Kaufmichkaufmich würde ich mögen.

 

Zu Jules van der Leys Erzählprojekt Die Läden meiner Kindheit. Mehr Geschichten: hier.

 

Große und kleine Schlachten

Qype-Beitrag zum Völkerschlachtdenkmal, Prager Straße, 04299 Leipzig; Bewertung: *** (von 5)

Das Völkerschlachtdenkmal und ich, ich und das Völkerschlachtdenkmal… Einmal im Jahr mußte ich hin.

Die DDR hatte noch ein paar Jährchen vor sich, ich fast einen halben Meter Wachstum. Die Luft der Stadt roch nach Kohlekraftwerk, und dazu paßte das Schwarzgrau des Steins. In meiner Vorstellung war es das Denkmal, von dem der Geruch ausging und sich über ganz Leipzig legte, bis in die Wohnstuben hinein.

Nach dem Entenfüttern strebten meine Tante und ich strammen Schrittes über die Wiesen dem Monument zu, ich im blauen Anorak, meine Tante mit Schirm und Mantel.

Wie eine plumpe Schachfigur hockt das Ding auf dem flachen Grund; schnell wird es groß und größer. Hinter dem frostigen Wasserbecken gibt es einen Eingang, der nicht einlädt. Rein mußte man trotzdem. Auch wenn es drinnen nicht viel wärmer war.

Stein auf Stein, zu groß für richtige Erinnerungen; höchstens waren die geschlossenen Augen der gigantischen grauen Krieger für Alpträume gut. Einmal hatte sich ein russischer Chor im Rund versammelt, um den minutenlangen Nachhall des Inneren für ein Konzert zu nutzen. Nun, es hat gehallt, und ich hatte hinterher Fieber.

De Völgorschlochd. Die hat man mir oft erläutert, und ich habe sie immer wieder gründlich vergessen. Nur diese eine dumme Anekdote blieb hängen, die von dem amerikanischen Touristen: Dem fällt zu allen volkseigenen Leipziger Sehenswürdigkeiten nur ein, tjaha, in Amerika gibt es das aber besser, größerer, schnellerweiterhöher. Als er nun mit seinem Stadtführer am Völkerschlachtdenkmal vorbeikommt, fragt er völlig hingerissen: That’s marvellous! Was ist das? Woraufhin der Guide die Achseln zuckt: Keine Ahnung, stand gestern noch nüsch da.

Neben diesem Witz ruht das Völkerschlachtdenkmal in meinem Gedächtnis, in der Abteilung für Nutzloses. Wer weiß, vielleicht schleppe ich ja dermaleinst meine Nichte dorthin. Falls sie mich ärgern sollte.