Es ist ein blasser Landstrich, nicht flach und nicht gebirgig, weder Steppe noch Wald; es zählt sich nicht zum Rheinland und nicht zur Pfalz und zu Hessen schon gar nicht: Da, wo der Rhein einen großen Umweg macht, zwischen Bingen im Westen, Mainz im Osten und im Süden Worms, liegt Rheinhessen.
Es gibt nicht viel, was das Auge hält; Hügel hinter Hügel, mit Getreide oder Wein bepflanzt, Kulturlandschaft seit Tausenden von Jahren. Noch früher war es Meeresgrund: zwischen den Reben leuchten weiße Schneckentürmchen, Muschelschalen und — Finderglück! — glänzende Haifischzähne.
Von den Kelten erzählen Gräber und Gefäße. Dann kamen die Römer und brachten außer Krieg und Fernverkehr auch den Weinbau in die Region. Spätere Kaiser nahmen hier Quartier. Das Land war fruchtbar und umkämpft, was sich in starken Mauern und Resten schweren Geschützes zeigt. Bis heute wirkt die Herrschaft Napoleons, dessen Soldaten eine schnurgerade Straße zogen von Mainz bis nach Paris, und dessen Citoyens den Wortschatz dieser Gegend prägten.
Wald ist rar. Die Dörfer, aus dem Kalkstein der Gegend gebaut oder aus honigfarbenen Ziegeln, liegen in Täler und Mulden geduckt; oben, auf den besonnten Hügelhöhen, breiten sich die Äcker. Früher ragten nur die Kirchtürme aus den Bodenfalten und wiesen den Weg von Ort zu Ort. Heute wuchern Industrie- und Neubaugebiete die Hügel empor, und die Illusion der Menschenleere stellt sich nur noch selten ein.
Die Gründerzeit brachte sauberes Wasser für alle, und sie brachte die Eisenbahn. Ein dichtes Schienennetz verband die Dörfer; die Bahnen nannte man Bawettche und Valtinche, Zuckerlottche, Gickelche und Amiche. Nach den Wirtschaftswunderjahren wurden sie stillgelegt und bald ersetzt durch die A60, die A61, die A63, die das Land zerschneiden und endgültig zum Durchfahrtsgebiet machen.
In den letzten Jahren haben die Rheinhessen den Genuß entdeckt. Winzer machen Wein und Wellness, die Gastronomie blüht; die kleinen Orte öffnen sich dem Tourismus und bauen nagelneue Trulli. Trotzdem wird es hier wohl niemals eine Drosselgasse geben.
Je höher man geht zwischen Wingert und Feld, desto himmelweiter wird der Blick. Wie Perlenketten ziehen sich Alleebäume über die Hügelkämme; Schwärme von Windrädern sitzen auf ihren Flanken, und die Lerchen jubeln dazu. An klaren Tagen sieht man vom Donnersberg bis zum Taunus. Und wenn man sich so fast ein wenig allmächtig fühlt über dem sanften Land, hat es einen schon an sich gezogen. Boden bietet es genug für Wurzeln.
Literatur aus und über Rheinhessen:
z.B. Carl Zuckmayer (war gerade hier Thema); Elisabeth Langgässer; Wilhelm Holzamer
Und noch ein Knicks für K. mit dem Kompaß. Daß er die Himmelsrichtungen kennt, liegt sicher nicht nur an der Vogelperspektive.