Kaiser Wilhelm und die anderen

Schaut man – nicht zu weit – nach oben, hängt der Himmel voller Äpfel: Goldparmäne, gelbrot flammend, der Schöne von Boskoop, der uns durch den Winter bringen wird, der hellrote Schöne von Bath, frühe Sorte, schon vorbei. Birnen und Quitten auch, aber, oh, was für Äpfel! Die Äste biegen sich unter dem drallen Finkenwerder Prinzenapfel, der tiefroten Sternrenette mit weißen Sommersprossen, unter massigen Winterglockenäpfeln; und das sind nur die, die überhaupt Namen haben (und die ich noch weiß).

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Was da hängt, muß in die Kelterei. Vieles fällt von selbst; davon das Gute. Anderes wird heruntergeschüttelt. Laub rauscht auf, und ringsum purzeln rotwangige Kaiser Wilhelms mit sattem Plock aufs Gras: die aufklauben und in den Wagen werfen. Blaue Flecken werden sie davontragen, das ist dem Saft egal. Dem Rest mit Stangen helfen. Sanft geht das nicht – Augen zukneifen und kräftig draufschlagen, dann hagelt es schon Früchte. Vorsicht mit dem Kopf! und auch die nützlichen Spinnen droben im Laub verschonen!

Auf dem Wagen häufen sich die Äpfel: Golden und grün die Ananasrenette, bläßlich der Glockenapfel und der Kaiser Wilhelm, stramme, saftstrotzende Pracht. Es duftet, es tropft. Wespen kommen und gehen. Morgen wird vor den Wagen ein Auto gespannt, dann reisen Kaiser Wilhelm und die anderen zur Kelterei, und bald gibt es dann Streuobstwiesenapfelsaft.

Ein Bild von Himmel.
Ein Bild von Himmel.

 

Pfannkuchen

Ei, Milch, Mehl und Butter nach Gefühl; in der Pfanne blasig gestockt und goldbraun ausgebacken. Solang er noch knistert, auf den Teller. Um den herum stehen die Sommer vergangener Jahre, löffelstarrend: die Marmeladen von L.

Holunderblüte mit märkischem Streuobstwiesenapfelsaft: allein die Holunderblüte ist mir ein Vergnügen; dazu denk ich mir knorrige Bäume an einem Hang, unter brandenburgischem Himmel mit Schwalben darin, und solang man nur nach oben schaut, ist die Welt in Ordnung.

Schwarze Johannisbeere. Mit dem Löffelrücken ausgestrichen, bleibt sie doch schwarz; beim Zusammenrollen schon steigt der Duft nach süßer Erde auf. Wie im Garten der Großmutter, dieser Erinnerungswildnis voller Kirschen und Beeren. Im Kirschbaum lernte ich, daß die hübschen, runden Marienkäfer Raubtiere sind, und im Johannisbeerbusch, daß es sich lohnt, vorsichtig zu kauen, um die Kerne herum. Das hat sich bis heute nicht geändert: so köstlich.

Dann aber! Gold auf der Gabel, beinah scharf, und schon schmeckt’s süß nach Ferne: bittere Orange aus Sevilla! Über den Butterglanz reisen schmale Schalenboote, und beißt man auf eins, ist das Sonnenauf- und -untergang in einem. Nur nicht schlingen! Wie alles Kostbare ist es schnell vorbei: zwei Stück, und der Löffel klappert im leeren Marmeladenglas.

Ein Fest, eine Freude, eine kleine Seligkeit! Die Amsel im Hof stimmt das Große Pfannkuchenlied an, als wüßte sie genau, wovon ich rede.

 

 

 

Nächtliche Heimkehr

Zum Jahresende, wenn unsere Erdhalbkugel nach und nach ins Dunkle kippt, werden die Nächte Lebensraum. Eine Zeit, die ich mag; der Gesichtskreis verengt sich auf den Schein einer Lampe, das Wesentliche der kleinen Dinge tritt hervor, und die vermeintlich großen liegen im Schatten.
Im Dunkeln nun heimwärts durch die Stadt, die nachts so vertraut ist wie bei Licht, nur stiller. Auch gelber, vom Licht der Straßenlampen, und am gelbsten da, wo die Ahornblätter liegen. Nachts dürfen sie fallen, den Boden bedecken, und sie dürfen liegenbleiben, wo sie, bei Lichte gesehen, sofort zusammengepustet würden.
Was also tun? Ganz leicht: Im gelben Straßenlicht die gelben Blätter durcheinanderwirbeln, die vorgefundene Unordnung umordnen zu Spuren, die keiner sieht, und dann still nach Hause gehen.

Nachtlaub.

Die Oder aber:

Ein Fluß, wie ich sonst keinen kenne. Sie hat kein gebautes Bett und nimmt keinen braven Lauf; sie schmiegt sich und mäandert, sie verzweigt sich, versandet hier und reißt dort mit. Zwischen breiten Schilfgürteln strömt und stockt sie und spiegelt den Zug der Wolken und Wolken von Kranichen. Mit offenen Armen nimmt sie Schönheit vom Himmel und von der goldengrünen Weite um sie herum, fügt ihnen die eigene, silbrige hinzu und macht eine Landschaft daraus, die den Horizont weiter spannt und das Herz öffnet.
Links und rechts halten Deiche respektvoll Abstand; hinter ihnen ducken sich die Dörfer. Sie wissen wohl, warum. Aber an Tagen wie diesem ist die Oder ein Lied, eine funkelnde Lockung zwischen Weiden, und man möchte sie über den Bug eines Kahns oder im Wintereis sehen, um ihr nur ein bißchen näher zu kommen.

Reicht nicht: Blick vom Deich.

Warme Gedanken

Stell dir den Weg in die Felder vor, und wie du zwischen Traktorspuren die Häuser und das Mittagsläuten hinter dir läßt; Halme kitzeln deine nackten Schienbeine bei jedem Schritt. Es duftet nach Sonnenmilch, nach Erde und dörrendem Gras. Die Sonne steht hoch; auf der trockenen Ackerkrume glitzern Steinchen und kalkige Schneckenhäuser.

Das Dickicht am Waldrand wirft nur sparsam Schatten, aber das Gras wächst hier weicher und dunkler als anderswo. Du legst dich hinein und spürst, wie die Feuchtigkeit des Bodens in deine Kleidung dringt und ein kühles Bett für deinen Rücken bereitet, während die Sonnenhitze sich auf dir niederläßt.

Der Juni ist ein Raum, angefüllt mit Wärme und Gezirp und durchmessen von geflügelten Wesen; sein Blau leuchtet noch durch das Glührot deiner Lider. Ameisen beginnen deinen Arm zu erkunden, etwas summt dicht an deinem Ohr, doch du magst dich nicht rühren, weil die Sonne auf dir liegt wie ein schwerer Körper im Schlaf. So bleibst du unbewegt, knüpfst deine Gedanken an das Lied der Lerche, das Brummen eines Kleinflugzeugs und schwingst daran etwas von dir himmelwärts.

Und wenn du nur tief genug atmest und genügend Hitze aufsaugst, wird dich die Erinnerung ewig wärmen. (Wenn erst der Sonnenbrand abgeklungen ist.)

Mundraub. Und Erntedank

Wo Wald und Feld Seit an Seite über die Hügel ziehen, wo man einerseits Schatten, andererseits Sonne, hie Buchfink und da Lerche haben kann, wenn man Pfade sorgsam wählt und Strecken zurücklegt – da ist der beste Ort. Die beste Zeit: ist jetzt.

Jetzt im knappen Ackerrainschatten nach oben schauen: da hängt der Himmel voller Äpfelchen und kleiner, holziger Birnen. Die Kirschen, dunkel und ein bißchen bitter, sind schon durch; die Pflaumen brauchen noch, und auch die Walnüsse lassen sich noch nicht aus ihren grünen Hüllen lösen.

Hagebutten könnte man jetzt, könnte man das, in Köstliches verwandeln (hätte man doch ein Körbchen dabei!). Auch Quitten wären in den Taschen nur Ballast. Viel leichter, im Vorübergehn an Maiskolben und Trauben zu picken auf dem Weg zum Waldrand.

Dort und an Bahndämmen, das weiß jedes Kind, wachsen die Brombeeren. Sie sind nicht anpflanzbar und nicht käuflich. (Erwachsene vergessen das und gehen in den Supermarkt, um hinterher enttäuscht zu sein.) Brombeerdickicht erfordert lange Arme und ein dickes Fell, und nachher sind die Finger schwarz.

So wird der Wanderweg zum Gang durch eine Speisekammer, links und rechts gesäumt von Herrlichkeiten; genug für alle, wie viele Beine sie auch haben. Jede Frucht macht süße Flecken auf der Seele; jeder Zweig lockt weiter in die Höh. Weit kommt auf diese Art kein Mensch: so, so ungefähr denke ich mir das Paradies.

www.mundraub.org

Das Zwischenland

Es ist ein blasser Landstrich, nicht flach und nicht gebirgig, weder Steppe noch Wald; es zählt sich nicht zum Rheinland und nicht zur Pfalz und zu Hessen schon gar nicht: Da, wo der Rhein einen großen Umweg macht, zwischen Bingen im Westen, Mainz im Osten und im Süden Worms, liegt Rheinhessen.

Es gibt nicht viel, was das Auge hält; Hügel hinter Hügel, mit Getreide oder Wein bepflanzt, Kulturlandschaft seit Tausenden von Jahren. Noch früher war es Meeresgrund: zwischen den Reben leuchten weiße Schneckentürmchen, Muschelschalen und — Finderglück! — glänzende Haifischzähne.

Von den Kelten erzählen Gräber und Gefäße. Dann kamen die Römer und brachten außer Krieg und Fernverkehr auch den Weinbau in die Region. Spätere Kaiser nahmen hier Quartier. Das Land war fruchtbar und umkämpft, was sich in starken Mauern und Resten schweren Geschützes zeigt. Bis heute wirkt die Herrschaft Napoleons, dessen Soldaten eine schnurgerade Straße zogen von Mainz bis nach Paris, und dessen Citoyens den Wortschatz dieser Gegend prägten.

Wald ist rar. Die Dörfer, aus dem Kalkstein der Gegend gebaut oder aus honigfarbenen Ziegeln, liegen in Täler und Mulden geduckt; oben, auf den besonnten Hügelhöhen, breiten sich die Äcker. Früher ragten nur die Kirchtürme aus den Bodenfalten und wiesen den Weg von Ort zu Ort. Heute wuchern Industrie- und Neubaugebiete die Hügel empor, und die Illusion der Menschenleere stellt sich nur noch selten ein.

Die Gründerzeit brachte sauberes Wasser für alle, und sie brachte die Eisenbahn. Ein dichtes Schienennetz verband die Dörfer; die Bahnen nannte man Bawettche und Valtinche, Zuckerlottche, Gickelche und Amiche. Nach den Wirtschaftswunderjahren wurden sie stillgelegt und bald ersetzt durch die A60, die A61, die A63, die das Land zerschneiden und endgültig zum Durchfahrtsgebiet machen.

In den letzten Jahren haben die Rheinhessen den Genuß entdeckt. Winzer machen Wein und Wellness, die Gastronomie blüht; die kleinen Orte öffnen sich dem Tourismus und bauen nagelneue Trulli. Trotzdem wird es hier wohl niemals eine Drosselgasse geben.

Je höher man geht zwischen Wingert und Feld, desto himmelweiter wird der Blick. Wie Perlenketten ziehen sich Alleebäume über die Hügelkämme; Schwärme von Windrädern sitzen auf ihren Flanken, und die Lerchen jubeln dazu. An klaren Tagen sieht man vom Donnersberg bis zum Taunus. Und wenn man sich so fast ein wenig allmächtig fühlt über dem sanften Land, hat es einen schon an sich gezogen. Boden bietet es genug für Wurzeln.

Literatur aus und über Rheinhessen:
z.B. Carl Zuckmayer (war gerade hier Thema); Elisabeth Langgässer; Wilhelm Holzamer

Und noch ein Knicks für K. mit dem Kompaß. Daß er die Himmelsrichtungen kennt, liegt sicher nicht nur an der Vogelperspektive.

Am Brunnen vor dem Tore

Wenn du Glück hast, findest du einen Lindenbaum für die Rast. Du kannst dich aus der Mittagsglut in sein Gewölbe flüchten und auf dem Rücken liegend Stamm, Ästen, Zweigen, Zweiglein bis ins Unendliche folgen. Lindenblätter sind, wie alles auf der Welt, auf einer Seite dunkler, auf einer Seite heller; versuchst du sie aber genau einzuteilen, blenden sie dich mit Sonnenblitzen: Augen zu!

Das Wissen über Linden ist alt und trocken. Es enthält Wörter wie »Lindenspinnmilbe« und »Wurzelbrut«. Aber selbst im Trockenen steckt noch etwas von der Kraft des grünen Baums: Tee aus Lindenblüten stillt Husten, löst Krämpfe, lindert Unruhezustände.

Wenn du großes, ganz großes Glück hast auf deiner Wanderung, dann blüht sie nämlich. Dann zieht sie dich über weite Strecken an mit ihrem Honigduft. Dann ist sie ein Reich, ihre Krone bevölkert von Bienen; deren Hymnus macht den ganzen Baum zu einem Schlaflied, macht dir die Lider schwer und den Atem leicht.

Dieser alljährlich an- und abschwellende Klang der Linde kann sogar bewirken, daß du, eine süße halbe oder ganze Stunde lang, völlig vergißt, daß es Männergesangsvereine gibt.

Leinen

Im Paradies, da bin ich sicher, muß es Leinen geben! Leinen faßt Kissen griffig ein und lindert Sommernächte mit kühler Hand. Frisches Leinen duftet weiß und zieht den Schlaf an; es kann schwer sein wie ein Kettenhemd und im Wind knattern, daß einen das Fernweh packt.

Leinenservietten. Anfang 20. Jh.

Leinen liebt Hitze: Unterm glühenden Bügeleisen bekommt es Glanz. Was als kalte, krumme Lappen aus der Wäsche kam, streckt sich wohlig und zeigt gewirkte Muster: Fischgrat auf der hessischen Hausweberei, Veilchensträuße auf den herrschaftlichen Servietten. Leinenweiß würde es, wenn es Tau und Sonne trinken dürfte auf der Bleichwiese. (Es gibt eine Bleiche am Fluß, aber die ist vierspurig ausgebaut …)

Und dann sind da die Monogramme. Taufkleid, Nachtwäsche, das letzte Hemd — jedes Stück trägt das stolze Zeichen seiner Besitzerin, Trägerin und womöglich Herstellerin.

Häkelspitze

Ich könnte kein Kleidungsstück machen — vom Raufen, Riffeln, Rotten, Brechen, Schwingen, Hecheln, Spinnen, Haspeln, Weben auf dem Weg vom Flachs zum Tuch habe ich allenfalls eine blasse Ahnung. Den Handwerkerinnen und Künstlerinnen von damals erweise ich meine Reverenz, indem ich ihre Werke hundert Jahre später bügle, während alles andere bei mir knittrig bleibt.

Nachgereichte Links:
Bericht über die handwerkliche Herstellung von Leinen
Zur Geschichte der Leinenherstellung in Deutschland
Eine aktuelle Bezugsquelle für Leinen

Und noch ein Nachtrag:
Unter www.leinen.de gibt es neuerdings wieder Leinenstoffe von Holstein Flachs. So schön!