Nichtbilder

Ich erinnere mich an zwei oder drei Alben mit Familienfotos, die nach Schwarzweißbildern rochen; manche hatten kunstvoll gewellte Ränder, an denen man mit dem Zeigefinger entlangfahren konnte. Besonders faszinierten mich die halbtransparenten Papiere zwischen den Albumseiten, die, bei vollständiger Kenntlichkeit der Bilder, alle Details verbargen; sie saugten sich an den Seiten fest und wollten mit Vorsicht abgehoben sein. Sie trugen ein geprägtes Spinnennetzmuster, in dem hier und da pralle Spinnen saßen.
Die Bilder des Liebsten wohnten in zwei Schuhschachteln; sie waren nicht sortiert, aber sie klemmten ungefähr da, wo sie chronologisch hingehörten. Manche waren in den Umschlägen aus dem Fotogeschäft gebündelt. Feste, Urlaube, Auftritte, Zivildienst, Studium, Ausland — alles hatte er, wie’s kam, dokumentiert und mit der freundlichen Achtlosigkeit, die ich liebte, in diesen Schachteln verwahrt.
Beides, die Alben mit den Familienfotos und die Schachteln mit den Bildern des Liebsten, gibt es nicht mehr; sie sind durch Umstände, an die ich nicht gern denke, vernichtet worden und mit ihnen fast alle meine Kinder-, die meisten meiner Jugendbilder.
Vielleicht liegt es daran, daß ich sie nicht mehr hervorholen und anschauen kann; jedenfalls stehen mir viele davon in großer Deutlichkeit vor Augen. Von manchen weiß ich, wie es war, vor der Kamera zu sein, meist unfreiwillig oder doch zumindest sehr bewußt, daß ich gerade angeschaut werde oder daß man etwas von mir erwarte, und wie man das später auf den Abzügen sah.
Die Geschichte setzt sich fort. Bis ich selber begann, Fotos zu machen, sind meine Erinnerungen bilderlos; manchen Motiven trauere ich bis heute hinterher.
Ich hätte gern ein Nichtbilderbuch. Gewidmet all den verlorenen, nie gemachten oder nie entwickelten Fotos, die jedes Leben begleiten. Auf dem Umschlag wären ein paar leere Fotoecken zu sehen, und zwischen den Seiten läge zartes Transparentpapier wie dichte Spinnweben, aber es gäbe keine glänzenden Oberflächen, die sie schützen und keine Details, die sie dabei verhüllen könnten. Nur Geschichten wie diese hier, oder die.

0 thoughts on “Nichtbilder

  1. Diese Alben hatten meine Großeltern auch. Wo sie hingekommen sind, weiß ich nicht. Die Spinnen mochte ich schon damals sehr, auch die auf diese halbdurchsichtigen, leicht zu knitternden Seiten. Und wie du mochte ich diese gewellten Ränder. Anfassen war aber tabu.
    Ein NIchtbilderbuch – die Idee gefällt mir, macht mich irgendwie auch traurig.
    Erinnerungen ohne BIlder sind zuweilen wahrer als jene mit Bildern. Auf denen mit Bildern sind immer zwei Seiten drauf, jene des Fotgrafierenden und meine – doch eben meist anders, als ich die Situation in Erinnerung habe. Das Bild verfälscht zuweilen meine Gefühle im nachhinein.
    Sehr schade, dass deine Bilder verschwunden sind. Das tut mir sehr leid.

    1. Danke, Soso. Ich bin da zwiegespalten — klar, schade, daß ich nicht mehr nachschauen kann, aber sie nicht zu haben, macht die Bilder im Gedächtnis dauerhafter. Und, wie Du es sagst, manchmal verfälscht es die Gefühle zur Erinnerung, wenn sie überprüfbar wird … muß ich noch drüber nachdenken. Auch die Idee, daß alle Bilder zwei Seiten haben (und eine Rückseite auch noch. Ich mag Rückseiten von Dingen), gefällt mir gut. Lauter Anknüpfungspunkte für so viele Geschichten –!

  2. Kurze Bemerkung zu dem “halbtransparenten Papier mit geprägtem Spinnennetzmuster”: Es wird Spinnenpapier genannt. Brauchst Du so was, um damit zu knistern? Ich habe einige Bögen davon im Papierschrank liegen.

    1. Oh, habe ich mich richtig erinnert –! Das ist klasse, danke für den Hinweis. Ich habe die Suchmaschine befragt — man kann es sogar noch kaufen! Und wer weiß, vielleicht brauche ich mal einen Stapel von diesem Papier, wenn ich mein Buch fertigstellen sollte …

  3. An diese Spinnenwebseiten erinnere ich mich auch und gerne. An die Bilder, die verloren gegangen und an die, die ich nicht machte auch. Manchmal frage ich mich, ob die Bilder, die ich mache, damit auch verschwunden sind und die, die ich gerne gemacht hätte, es aber nicht tat, die sich in mir festsetzten, nicht die mit wirklichem Wert sind?!
    Ansonsten stimme ich Emil zu … ich würde dieses Buch sehr gerne lesen!
    herzliche Grüsse Ulli

    1. Das scheint verbreitet zu sein — nicht gemachte Bilder, die sich einbrennen. (Und die, wie eine Freundin anmerkte, in der Erinnerung immer schöner und einzigartiger werden …) Vielleicht sollte ich eine Umfrage starten? .)

    1. Oha! Da wärn’s schon zwei. Damit wäre eine Auflage von vier Exemplaren vonnöten (Mutti will sicher auch eins). Ich überlege allerdings wirklich …
      Oh, wo Sie grad hier sind: landen meine Kommentare bei Ihnen drüben im Spam? Ich glaube, Akismet hat mich mal wieder auf dem Kieker.

      1. Danke für Ihren Hinweis, der war hilfreich, denn ich hatte die letzten Tage kein scharfes Auge auf den Blog und daher auch das Silber in der Mülltonne nicht gesehen. P.S. Ich hoffe, die Auflagenerwartung wird noch steigen.

  4. So eines mit nicht gemalten Bildern hätte ich auch gerne, es sind in der Tat die besten.
    Zu den Familienfotoalben, die Du so treffend beschreibst samt Geruch, müsste es Textbände mit den nicht erzählten Geschichten geben. Mir ist spät im Leben erst aufgefallen, dass manches Erzählte mit den alten Fotos nicht übereinstimmt bzw. das Verschwiegene regelrecht in der Patina lauerte, um mich eines Tages anzuspringen.

    1. Das Verhältnis von Bildern zu Geschichten scheint mir ein immer verwickelteres; da bin ich mit meinen verschwundenen Bildern am Ende noch besser dran, die lassen immerhin meine Geschichten unangetastet … Dein Buch mit ungemalten Bildern würde ich mir dringend anschauen wollen.

  5. Abhanden gekommene Erinnerungsschätze schmerzen sehr, als hätte man einen Teil seiner selbst hergeben müssen. Die Alben mit Spinnennetzpapier habe ich glücklicherweise gehütet, kann sie aber nicht ansehen, tut zu sehr weh, aber DA SEIN müssen sie. Deine Trauer um verlorene Motive kann ich gut nachvollziehen. Ich trauere um jede Geschichte, die ich nicht aufgeschrieben habe, denn nun ist so vieles vergessen.
    Friedliche Festtage.

    1. Da sein ist das, was Erinnerungen können; selbst wenn man sie nicht ständig betrachtet, sind sie der Hintergrund für das, was im Moment geschieht. Wichtig, das denke ich auch. (Aber das Gedächtnis ist erstaunlich; manches gibt es wieder preis, wenn man gar nicht mehr damit rechnet.)
      Festliche Wiedergrüße!

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