»Die ziehen nach Süden«, erklärten die Eltern, als das Kind fragte, warum jeden Tag mehr Schwalben auf den Stromleitungen hinterm Haus saßen. »Die erfrieren sonst im Winter.«
Das Kind stand auf einem Sessel am offenen Fenster, es trug schon Strumpfhosen, denn im Schatten war es kalt; erster Holzrauchgeruch lag über abgeernteten Äckern. Auf den blitzenden Drähten saßen die Schwalben, ständig kamen neue Scharen an und suchten Platz. Hier flatterte es auf, da fand es zur Ruhe; die kleinen schwarzweißen Körper drängten sich eng und enger, ihr Zwitschern lag fern und kühl in der Luft.
Das Kind kannte sie gut, die Schwalben; es war ihrem sommerlichen Gleitflug über die Gärten mit dem Finger gefolgt. Jetzt bedauerte es, daß die schönen Vögel fortwollten. »Ihr könnt ruhig bei uns wohnen!«, rief es dem Vogelschwarm zu. »Ich laß euch das Fenster auf!«
Ein größerer Verband von Schwalben erhob sich und flog einen weiten Bogen vor dem Himmel, bevor er sich wieder auf den Stromdrähten niederließ. Vielleicht hatten sie nicht gehört?
»Ihr könnt bei uns wohnen!«, schrie das Kind, so laut es konnte, und kletterte auf die Fensterbank, die nach trockenem Staub duftete. Zwei Stockwerke tief lag buschig der Garten. »Kommt, kommt alle!« Und lauter: »Schwalben! Kommt!«
Das schwarzweiße Flattern ließ nicht nach; Wolken von Vögeln stürzten sich ins Blau, zogen Schleifen durch die Luft, um sich wieder zu sammeln und niederzulassen, ein gleitendes Kommen und Gehen nach einem unbegreiflichen Plan. Das Kind rief und rief, bis es heiser war.
Auf einmal fühlte es sich hinterrücks gepackt; die Mutter pflückte es von seinem Sitz. Sie schimpfte: Zu laut! Und: Nicht auf die Fensterbank! Ein Knall, und das Fenster war zu.
»Aber ich muß doch« — und die Tränen liefen –, »die Schwalben wollen doch kommen!«
*
Später, in einem anderen Haus, klebten Schwalbennester unterm Dach; gleich drei über dem Kinderzimmerfenster. Nie schlief das Kind besser ein als beim abendlichen Rauschen und Flattern schmaler, schwarzer Flügel, bei den Stimmen der heimkehrenden Vögel: ein absinkendes, murmelndes Schwatzen, das in stimmhaftem Schnarren endet, um von einem anderen Tier aufgenommen zu werden; ein endloses, schläfriges Gespräch.
Früher haben sich die Menschen auch auf den Weg gemacht….
Ah, wem sagst Du das, Schwarzer Vogel! Am liebsten möchte ich auf der Stelle los …
Wunderschöne Beschreibung der Schwalbenmusik am Abend.
(Der ganze Text gefällt mir.)
Danke! (Auch schwalbengeschädigt? Ich habe vor einigen Tagen die ersten gesehen. Nun fehlen noch die Mauersegler, dann kann der Sommer kommen …)
Nein, Nicht geschädigt. Ich liebe ihre Geräusche – vor allem die, die sie beim Fliegen machen und ihr abendliches Geschwätz.
Geht mir genauso. Gibt nichts Schöneres … Schwalbengeschwätz ist für mich das beste Beruhigungsmittel; genau das Gegenteil von krähendem Hahn am Morgen….
Hahn? Krähen? Am Morgen? Lamge nicht mehr gehört – ich habe einen verdammt guten Schlaf ab 3 Uhr bis gegen 10 Uhr 😉
wunderbar erzählt. ich höre es rufen, das kind und freue mich, dass auch andere kinder mit den vögeln reden … das kind in mir tut es bis heute!
Wenn mir eine Fee begegnet wäre — mein Wunsch wäre klar gewesen: die Sprache der Tiere verstehen. .) — Danke, Soso!
Schön! Aber ach, das arme Kind, der Schluss ist ja traurig!
Klassischer Fall von Erwachsenen, die’s einfach nicht kapieren … (Aber die Schwalben sind ja dann doch gekommen, wenn auch nie als Wintergäste.)
Manche Eltern scheinen mit dem Elternsein vergessen zu haben, wie es ist, ein Kind zu sein.
Ich glaube eher, Eltern konzentrieren sich manchmal (zu sehr) auf Elterndinge, z.B. darauf zu achten, dass das Kind nicht zwei Stockwerke tief aus dem Fenster fällt.
Stoff für Dramen — beide haben ja recht.
Schön erzählt! Schwalben gibt’s hier nicht sehr oft, aber Mauersegler, deren Kreischen mich bald wieder jeden Morgen begleiten wird, wenn ich zur Arbeit gehe. Ich warte auch.
Während der Ruf des Zilpzalps es für mich gleich fünf Grad kühler macht, erhöht sich die Temperatur mit Mauerseglerschrillen um zehn. Gehörte Temperatur, aber Mauersegler gehören einfach zum Sommer.
Ich mag die Schwalben auch sehr und beobachte sie heute noch gern an warmen Sommerabenden, beim Insektenfang. Als ich ein Kind war, hatten wir Schwalben als Untermieter in der Diele. Schöner Text!
In der Diele! Das hätte mir gefallen. (Das erinnert mich: wir waren jedes Jahr in Frankreich, in einem winzigen Dorf und dem dortigen Hotel; das war, wenn nicht gerade Familientreffen war, auch nur von Schwalben bewohnt. Mochte ich sehr — sie hatten extra Fensterscheiben dafür entfernt.)
Ja, die ersten sieben Jahre lebte ich in einem alten Fachwerkbauernhaus mit einer großen Diele oder besser Deele, mit Klöntür!
Oh — das klingt wie, hm, Freilichtmuseum. Da habe ich solche Dinge zuletzt gesehen. .)
Jedes Jahr warte ich wieder wie ein Kind darauf, dass sie endlich kommen.
Eine macht vielleicht noch keinen, aber ohne Schwalben überhaupt kein Sommer — das steht mal fest. (Habe gestern ganz sommerlich eine heiße Suppe unter einem Schwalbennest verzehrt, während die Vögel über den Nestrand schauten. Das mag ich sehr, wie selbstverständlich sie in Menschengefilden leben.)