Im Wald mit D.

Mit D. hatte ich wenig gemeinsam außer einer Pfadfindervergangenheit (an verschiedenen Enden der Republik), kaum Geld und der sich daraus ergebenden Rauhbauzigkeit bei der Freizeitgestaltung.
Wir hatten so lange darüber geredet, daß eine Wanderung unausweichlich schien. Kartenmaterial besaß ich schon: in den Kellerwald sollte es gehen. Zwei Tage, vielleicht drei; notfalls am Montag die Vorlesung schwänzen.
Als D. am Samstagmorgen auftauchte, trug er den größten Rucksack, den ich je gesehen hatte.
Das kann ich aber nicht alles alleine schleppen, sagte er mit vorwurfsvollem Blick auf mein leichtes Gepäck.
Ach, D., sagte ich.
Wir packten um. Ich nahm das Zelt; D. schätzte, es sei auch ohne Hammer aufzubauen. Auf den Klappspaten bestand er. Bei den Konserven konnte ich ihn auf zwei Dosen runterhandeln, und der Inhalt des Verbandskastens war ohne diesen nur halb so schwer. Beim Kocher gab es nichts zu diskutieren; den packte ritterlich er ein. Ich bekam Kaffee und Filter und die Rotweinflasche.
Die ersten zwei Stunden der Reise trug unsere Ausrüstung die Regionalbahn. Hinter Bad Wildungen mußten wir dann ran. Der Weg war anspruchsvoll; das nordhessische Hügelland lag bilderbuchschön unter der Sonne.
Wir durchlebten alle Stadien der Wanderschaft: Aufbruchsstimmung, Euphorie, erste Verschleißerscheinungen, Unterzuckerung, Übellaunigkeit und Gezänk, Regeneration bis zur erneuten Aufbruchstimmung. D. ging nach Kompaß, ich nach der Sonne; er war schneller, ich ausdauernder, er wollte reden, ich meine Ruhe. Mehr als einmal sagte ich: ach, D.; aber wir schafften’s irgendwie.
Als es Nacht wurde im Kellerwald und wir einen Zeltplatz brauchten, da tauchte wie im Märchen ein Stück leidlich gemähten Rasens vor uns auf; darauf schwamm im Dämmer eine kleine Kapelle. Im Schein der Taschenlampe bauten wir das Zelt auf; ganz eben war es nicht, aber wen stört das schon nach so einem Tag.
Im Morgengrauen weckten uns die Vögel. Das Kapellchen war noch da. Bald dampfte der Kaffee; wir saßen in unseren Schlafsäcken im Zelteingang und diskutierten die weitere Route.
Plötzlich: Motorengeräusch. Ein Auto hielt, die Fahrertür schlug zu, erboste Schritte stürmten in Richtung Zelt:
Was fällt euch ein? Macht, daß ihr fortkommt!
Im Reflex sprang ich auf, verhedderte mich im Schlafsack und stürzte beinahe einem riesengroßen Mann im Anzug vor die Stiefel.
Entschuldigen Sie, wir haben hier nur …
Einfach so auf dem Friedhof zelten! Das gibt’s nicht!
Ehe ich etwas sagen konnte, stand D. neben mir mit einem Lächeln, das ich gar nicht an ihm kannte.
Guten Morgen, möchten Sie vielleicht einen Kaffee?
Der Riese stutzte, knurrte, und schließlich saßen wir zu dritt auf Grabsteinen und frühstückten. Er erzählte uns seine erstaunliche Lebensgeschichte, an die ich mich nicht mehr recht erinnere. Dann packten D. und ich zusammen — im Kapellchen sollte geheiratet werden, da mußte alles ordentlich sein — und zogen nach herzlichem Abschied weiter.
Ich war beeindruckt.
Der Rest der Wanderung verging im Flug. Wir sahen Wildschweine, ein versunkenes Dorf im Edersee, leerten feierlich die mitgeschleppte Rotweinflasche und brannten ein Loch in meinen Schlafsack. Die zweite Nacht verbrachten wir auf einem Campingplatz. Und Montag saßen wir am Seeufer statt im Hörsaal. Was mehr braucht der Mensch? Noch im Zug schworen wir, daß wir wieder gehen würden, so bald wie möglich.
Viele Jahre später rief D. mich einmal an. Ich hörte dieses Lächeln in seiner Stimme; es ging ihm gut, er hatte auf ganzer Linie Erfolg gehabt. Als wir von den alten Zeiten sprachen und von unseren Wanderungen, veränderte sich sein Ton. Er seufzte. Aber Familie, Job, Haus, Urlaubsreisen — es sei nun mal ein anderer Lebensabschnitt.
Ach, D., dachte ich. Ach, D.

0 thoughts on “Im Wald mit D.

    1. Ich habe versucht herauszufinden, wo das Kapellchen ist. Es ist mir nicht gelungen … Es war ein sehr alter, nicht mehr genutzter Friedhof mitten im Wald, und die Kapelle sah gotisch aus.
      Und: neenee, die Zeiten sind vorbei. .)

    1. Jetzt ist auch gut mit den Wandergeschichten. Beim Gehen schreiben die sich halt von alleine; aber nun sind die Ferien rum.
      Das Wort hat da eigentlich gar nichts zu suchen (stammt ganz woanders her), aber es wollte benutzt werden. Das ist wie bei Kurt Schwitters mit diesem Auftragsporträt: »Neben mir lag ein Bierfilz …«

    2. Hihihi! Raubauzig! Habe ich bis eben nie verwendet und werde es vermutlich auch nie wieder tun. Sieht lustig aus. Klingt nach Raubbau und kauzig. In meinem amerikanischen Text steht *rambunctiousness* mit der Anmerkung, dass dem Autor das Wort so gut gefällt. Das wird auf Deutsch jetzt *Raubauzigkeit*. (Wetten, dass mir der Lektor das gleich wieder streicht, weil er es nicht kennt oder für deutsche Leser nicht zumutbar hält?)

    1. Danke. Die Zeiten ändern sich, und wir, wir ändern uns mit ihnen. Die vielen verschiedenen Lebensentwürfe …
      (Dialog auf dem Klassentreffen: »Eine Frau, zwei Kinder. – Du?« — »Zwei Frauen, kein Kind.« — »Auch schön …«)

  1. Mir hat auch die Rauhbautzigkeit gut gefallen, gerade in diesem Zusammenhang. Eigentlich hat mir alles gut gefallen an Deiner Geschichte. Und ich freue mich auf die nächste, übers Wandern oder sonst was.

    1. Kleiner Tipp ins Blaue: Verwendest du vielleicht Firefox? Der macht gerade ziemlichen Ärger u.a. mit Java. Also falls ja, versuchs mal mit einem anderen Browser (Google Chrome ist ziemlich potent, wenngleich datenschutztechnisch wahrscheinlich nicht ganz sauber. Aber der Komfooort … leider geil :-/ )

  2. Habe kürzlich auch vor einem Kapellchen mein Zelt aufgeschlagen. Und Besuch bekommen: von einem abendlichen Spaziergänger aus dem nahen Dorf, der seinen Hund ausführte. Geschimpft hat er nicht. Ein schönes Plätzchen haben Sie sich da ausgesucht, meinte er anerkennend. Wir tauschten ein paar Wandererinnerungen aus, und er empfahl mir einen Weg fürs nächste Mal.
    Ich fürchte mich immer vor genau der Art vor Begegnung, wie Sie sie schildern. Mehr denn vor Wildschweinen fürchte ich die Förster und Jäger. Bislang sind mir aber alle, Förster wie Wildschweine, freundlich begegnet.

    1. Ich habe bislang auch nur nette Leute im Wald getroffen. Aber es hilft, wenn man nicht allein ist bei diesen Begegnungen.
      Und Jäger habe ich gefressen, weiß aber immerhin, daß ich mein Gehtempo beträchtlich steigern kann, wenn es sein muß.
      PS: Außerdem bin ich neidisch. Einfach im Wald schlafen, das darf ich schon lange nicht mehr.

  3. Eine fein geschriebene Geschichte hast Du aus dieser Wanderung mit D. gemacht. So viele kleine und große Momente oder Augenblicke tauchen vor uns bildhaft auf, “Übellaunigkeit und Gezänk” und dann “zu dritt auf Grabsteinen” …
    Das ist ein Text nach meinem Geschmack. Das Erlebnis auch, mitunter zumindest .. 😉
    mb

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